„Der Buchstabe tötet“ (2Kor 3,6). Überlegungen zur aktuellen Debatte um die Homosexualität

Jens Herzer, Professor für die neutestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultät Leipzig beleuchtet in diesem Vortrag aus neutestamentlicher Sicht die einschlägigen Texte zum Thema Homosexualität in der Bibel. Dabei stellt er seine Betrachtungen in den Kontext der übergeordneten Frage nach der Autorität der Schrift für ethische Fragestellungen.

 

Am Ende des Vortrags zieht der Autor Konsequenzen aus seinen Ausführungen. Diese betreffen zum einen die Frage danach, wie in der Kirche mit dem Thema „Homosexualität“ umgegangen werden sollte, zum anderen aber auch die übergeordnete Problemstellung, wie sich die Autorität der Bibel begründen lässt und konkret gefüllt ist.

 

Sein Vortrag wird im Folgenden versuchsweise zusammengefasst. Diese nicht vom Autor selbst stammende Zusammenfassung soll Lust machen, den Vortrag herunterzuladen und in Gänze zu studieren.

 

Voraussetzungen

Die Fragestellung, wie in der Kirche mit dem Thema Homosexualität umgegangen werden soll, ordnet sich Jens Herzer zufolge zum einen der größeren ethischen Fragestellung nach der Bedeutung der Ehe zu. Sie kann zum anderen nur angemessen im Rahmen des großen Themenkomplexes der „Schrifthermeneutik“ (damit ist das Nachdenken über alle Fragen rund um das Verstehen der Bibel und das Fruchtbarmachen des Verstandenen für die Gegenwart gemeint, Anm. der Redaktion) verhandelt werden.

 

Herzers Thesen zur Schrifthermeneutik:

Für eine christliche Ethik hat die Bibel im Grundsatz unbestreitbar eine normative Bedeutung.

 

Theologische, auf die Bibel bezogene Begründungen für ethische Urteile stehen freilich unter mehreren Bedingungen:

  • Die Bibel muss kritisch-reflektiert gelesen werden
  • Die Wirkungsgeschichte der biblischen Texte muss berücksichtigt werden
  • Die Gegebenheiten der eigenen Zeit und Geschichte müssen bedacht werden
  • Die Begrenztheit des Verstehens muss eingestanden werden

Insofern wir biblisch begründete ethische Urteile über Fragestellungen fällen wollen, die sich in der Gegenwart unter anderen Voraussetzungen präsentieren als zur Zeit der biblischen Autoren, kann so ein ethisches Urteil nur die Konkretion eines grundlegenden Ethos sein.

 

Mit Paulus kann sich Schrifthermeneutik nicht auf das Lesen und schlichter Eins-zu-Eins-Anwenden einzelner Aussagen erschöpfen.

 

Paulus ist vielmehr der Überzeugung, dass die Schrift unter Zugrundlegung der Unterscheidung zwischen dem Buchstaben (der menschlichen Seite der Schrift) und Gottes Geist (der den Menschen betreffende göttliche Heilswille, der zugleich als eigentliche Intention des „Buchstabens“ verstanden werden muss) relativiert werden darf und an einigen Stelle relativiert werden muss. Dies hat seinen stärksten Anhalt in der paulinischen Einsicht, dass Gott selbst die Schrift (konkret: das geschriebene Gesetz) mit seinem Handeln an Christus relativiert hat (vgl. z.B. Gal 3,13).

 

Die in der Bibel selbst zu findende Begründung für ihre Autorität lässt sich also so bestimmen, dass diese insofern gegeben ist, als in ihrer menschlichen Gestalt das „Wehen des Geistes Gottes erkennbar“ wird.

 

Demgegenüber hat ein Verständnis der Schriftautorität, die diese darin sieht, den geschichtlich gewordenen Wortlaut der biblischen Texte zum Maßstab zu erheben, um Glaubensweisen und ethischen Urteile zu begründen, keinen Anhalt in der Bibel selber.

 

Die biblischen Aussagen zu gleichgeschlechtlichen Sexualpraktiken

A. Das Heiligkeitsgesetz (Lev 20,13, vgl. Lev 18,22)

Gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken werden hier als verabscheuungswürdige Vergehen bestimmt, die "als Folge des Götzendienstes betrachtet oder mit diesem gleichgesetzt" werden. Das entsprechende Verbot verdankt sich freilich keiner theologischen Reflexion, sondern stellt eine "normative Konvention" dar, "die Israel von seiner Umwelt unterscheiden und in der Treue zum Gottesbund [...] halten soll".

B. Paulus (Röm 1,26; 1Kor 6,9; 1Tim 1,10)

Eine Verurteilung homosexueller Sexualpraktiken war für Paulus angesichts seiner jüdischen Prägung und als Kind der Antike, in der solche Praktiken oft einen kultischen Anteil hatten, unumgänglich. Zudem greift Paulus auf das zu seiner Zeit gängige, der Tradition der Stoa entstammende Argument zurück, derlei Praktiken seien unnatürlich. Schöpfungstheologisch argumentiert Paulus an dieser Stelle nicht.

 

Sowohl in 1Kor 6,9 als auch in Röm 1, 26 beurteilt Paulus gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken "als Ausdruck einer bewussten Abkehr von Gott hin zur Verehrung selbstgemachter Götzen" In seiner Perspektive stellt gleichgeschlechtlicher Sex lediglich einen Unterfall sexueller Promiskuität dar, die als "selbstbezogene, andere ge- und missbrauchende Lustbefriedigung" die grundsätzliche Verfallenheit aller Menschen an die Macht der Sünde illustriert. Demgegenüber verweist Paulus "die sexuelle Praxis in die stabilen Verhältnisse der Ehe (1Kor 7, vgl. 1 Thess 4)"  "Eine Differenzierung zwischen schierer Lustbefriedigung einerseits und homosexueller Disposition andererseits oder gar der Gedanke an dauerhafte Formen gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften scheint Paulus völlig fremd zu sein".

 

Jens Herzers Schlussfolgerungen

Die Ursachen einer homosexuellen Disposition von Menschen sind bisher zwar noch nicht umfassend wissenschaftlich geklärt. Sie liegt aber nicht "wie bei den in der biblischen Tradition verurteilten sexuellen Praktiken in einem sich bewusst von Gott abwendenden, selbstbezogenen und auf die Verehrung anderer Götter gerichteten Willen der Betroffenen" und fällt damit auch nicht unter das biblische Verdikt. "Wie im Bereich der Heterosexualität auch ist zwischen der homosexuellen Prägung und die Sexualität missbrauchenden Praktiken zur selbstbezogenen Lustbefriedigung und des Missbrauchs anderer zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist die maßgebliche hermeneutische Kategorie im Blick auf die Normativität von Schriftaussagen zur Sexualität des Menschen."

 

Vorsicht ist geboten, wenn man in der Debatte auf das Argument der Natürlichkeit bzw. Widernatürlichkeit einer sexuellen Prägung oder Praktik zurückgreift oder gar den Gedanken der "Schöpfungsgemäßheit" ins Spiel bringt.

Der Naturbegriff ist immer von dem notwendig relativen Wissensstand einer Epoche abhängig.

Theologisch muss gerade mit Paulus festgehalten werden, dass "durch die Macht der Sünde [...] die ursprüngliche (Schöpfungs-)Würde [...] aller Menschen als Ebenbild Gottes verloren gegangen (Röm 3,23)" (Herv. K.M.) ist und erst in Christus wiedererlangt wurde.

 

Heterosexualität und Homosexualität gehören "gleichermaßen in den Kontext einer verantwortlichen und auf gegenseitigen Respekt ausgerichteten Partnerschaft"


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"Der Aufsatz wurde in der Zeitschrift 'Evangelische Theologie' veröffentlicht. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die freundliche Bereitstellung."
Evangelische Theologie 1-2015_Beitrag He
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