Themenabend mit Peter Meis: (Wie) lässt sich die Apokalypse des Johannes als Hoffnungsbotschaft lesen?! Damals und heute.

Fünf Thesen zur Offenbarung des Johannes

(die als Buch der Bibel mit Vorsicht zu genießen ist, denn:)

 

1. Die Offenbarung des Johannes lässt sich immer als Hoffnungsbotschaft lesen. Auch als Drohbotschaft kann sie Frohbotschaft sein.

 

2. Die Macht apokalyptischer Bilder ist ungebrochen (Spiele, Filme, Kommentare, Nachrichten). Sie nähren unseren seelischen Haushalt im Guten wie im Bösen.

 

3. Die Offenbarung des Johannes lockt uns in selbstverschuldete Fallen: vorschnelle Deutungen der Zeitzeichen, (temporäre, geistliche) Berechnungen, Weltverachtung.

 

4. Fremdheit/Distanz ist die Bedingung von Verstehen. (Vertraute Texte sagen nur, was ich immer schon wusste). Insofern dienen auch die fremden Denkmuster der Apk als Korrektiv des eigenen Verständnisses von Evangelium und christlicher Existenz.

 

5. Im Mut, die eigene Tradition infrage zu stellen, liegt die Ermächtigung, die Apk auch als Hoffnungsbotschaft zu verstehen.

 


 

Weil die (Zahl) Sieben auch als Strukturprinzip für die Offb. wesentlich ist, sieben Antworten auf die Themenfrage. Nicht im Sinne einer Vollkommenheit, sondern als Versuch, mich in 7 Schritten heranzuarbeiten - von einer reservierten Haltung zu einer positiven Sicht.

 

1. Die Offenbarung lässt sich immer als Hoffnungsbotschaft lesen. Das ist ja das Problem! Auch als Drohbotschaft (ja gerade als solche) ist sie für manche Frohbotschaft. Und zwar nicht nur für Menschen, die den Weltuntergang herbeisehnen und sich womöglich die Hände dabei reiben. Sondern auch für Menschen, die sich nach einer Gerechtigkeit sehnen, die nur durch Vernichtung des gegenwärtigen Ungemachs, der Ungerechtigkeit, des Bösen herzustellen ist. Insofern ist die Offenbarung ein Trostbuch - wohl auch in ihrem Selbstverständnis - aber in einer sehr zwiespältigen und komplexen Weise.

 

2. Mir fällt es schwer, die Apokalypse als Trostbuch zu verstehen. Bis auf einen leuchtenden Text - nämlich Kapitel 21 (vom neuen Himmel, der neuen Erde und dem Himmlischen Jerusalem) - sind die Farben eher schwarz oder blutrünstig. Klaus Berger spricht (in seinem vor 3 Jahren erschienen Kommentar) von einer Art „Lichttheologie“. Will sagen: Dem Dunkel der Erde steht hier dualistisch das gleißende Licht Gottes gegenüber. Weiße Gewänder bei Engeln, Menschen und dem Menschensohn, Sterne, grelle Blitze, vor dem Thron Gottes erstreckt sich ein gläsernes Meer. Schon das Material (Kristall) verspricht kein warmes Licht. Selbst den vier „Aufblicken zum Himmel“ (Kap. 4,7,10/11,14) scheint mir etwas Seelenwärme zu fehlen.

 

Man sollte meinen, dass Trost und Seelsorge ihren Ort in den Gemeindebriefen haben („Sieben Sendschreiben“). Merkwürdigerweise fehlen hier aber nahliegende Anknüpfungspunkte: Weder spielen theologische Themen eine Rolle: das Leiden, Auferstehung, Weihnachten, Pfingsten, Sakramente, Gottesdienst, öffentliche Ordnung – noch werden anthropologische Themen erwähnt: Armut, Nächstenliebe, Gesundheit, Hunger, Krankheit, Diakonie, Kinder, Freundschaft. Von den 10 Geboten hat nur das sechste Bedeutung – immer freilich als ein Angriff auf Hurerei, einem Dauerbrenner der Offenbarung.

 

Statt all dieser Themen drängt Johannes auf Bekehrung. Die 7 Gemeinden sollen zum Anfang zurück und sich neu bekehren. Als ethisches Modell dient ein scharfer Dualismus: „Ich kenne deine Werke…weil du lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ (3,15f)

 

(Zugegebenermaßen: So unangenehm dieser Dualismus ist: Bei Greta Thunberg und ihrem „Bekehrungsdruck“ im Blick auf Klimafragen hat es mich überzeugt und seine Wirkung nicht verfehlt…)

 

3. Dieser scharfe Dualismus ist unheimlich, aber nicht ohne Reiz. (Man kann sich den Reiz etwa an der Schwarz-Weiß-Fotografie deutlich machen: Obwohl das Leben bunt ist, sind die bunten, also realistischeren Abbildungen in der Regel weniger interessant als die Bilder in Schwarz-Weiß).

 

Wie ein roter Faden zieht sich der Dualismus mit seinem klaren „Entweder-Oder“ durch alle Bereiche: ethisch (warm oder kalt), soziologisch (drinnen oder draußen, erwählt oder verworfen), geschichtlich (Rom oder himmlisches Jerusalem), zeitlich (zwei radikal geschiedene Äone).

 

Wenn ich es recht sehe, treten solche Dualismen (Entscheidung zwischen Ja und Nein, Tod oder Leben, scharfe Abgrenzungen gegen andere) in drei Situationen zutage: a) wenn man in einer Diasporasituation lebt, b) wenn ein (Massen)Abfall droht oder c) in Phasen geschichtlichen Dunkels (mit entsprechenden Krisenerfahrungen). Kriege, Pandemien, Katastrophen bilden daher einen besonderen Resonanzraum für Apokalyptik und den ihr eigenen dualistischen Denkfiguren.

 

Ein Beispiel: 1918-20. Auf die Expansion der Gründerzeit, und den fortschrittsverbunden hochfliegenden Kulturprotestantismus der Jahrhundertwende folgt der erste Weltkrieg und die Spanische Grippe. Karl Bart entwirft eine „Theologie der Krise“ (Dialektische Theologie), die u.a. das Kierkegaard‘sche Entweder-Oder beerbt und auf ein „entschiedenes Christentum“ Wert legt. Theologisch steht dahinter eine Wort-Gottes-Fundamentalismus, wie er heute (wenn auch viel schlichter) unter „Bibeltreue“ propagiert wird. (Auch die Lage in der DDR zwang mehr zu klaren Entscheidungen als in einer offenen Gesellschaft).

 

 

4. Wenig tröstlich, sondern höchst problematisch finde ich die Zeitvorstellung der Offb, allem voran den Chiliasmus („Tausendjähriges Reich“ nach 6 von 7 tausend Jahren Weltgeschichte, Offb 20). Nach dem Selbstverständnis der Offb steht das 1000-jährige Reich nahe bevor (1,3; 22,20). Wie das zu verstehen ist, hat die Kirchengeschichte immer wieder beschäftigt - und gespalten (Ostkirche-Westkirche u.a. bei der Kanonentscheidung, Reformatoren-Täuferbewegung, Sektenbildung). Ich will das hier nicht ausführen, klar ist aber bis heute: Ein solcher „Fahrplan“ der Weltgeschichte ist ein „gefundenes Fressen“ für Spekulanten, Sekten und Zombi-bzw. Katastrophenfilme. Es eignet sich bestens für das Schüren von Weltuntergangsängsten und die Spaltung der Zeitgenossen in Gute und Böse („Auferstehung der Gerechten“, wer gehört zu den 144000, die in dem Zwischenreich überleben?). Auch zur Jahrtausendwende 1999 war es ein ambivalentes Thema.

 

Insofern ist mir der Eindruck Martin Bubers nahe, der in der Apk eine „Degenerationserscheinung der israelitischen Prophetie“ sieht. Ihr Interesse gilt nicht mehr wie bei den Propheten der Verhinderung des Unheils, sondern seiner Berechnung (mindestens der Beobachtungen der Zeitzeichen). Denn die Zukunft ist nicht etwas, was noch zustande kommt, sie ist im Himmel schon vorhanden. Der Seher klärt sozusagen vom Ende der Geschichte her auf.

 

5. Interessant scheint mir das Thema „Macht“. Unausgesprochen ist es vielleicht das Hauptthema der Offb. Das Buch wirkt ja wie ein römischer Triumphbogen (z.B. der Titusbogen), der die Macht Gottes zeigt, aber auch alle Gegner mit abgebildet - oft in skurrilen Tiergestalten und Fratzen furchtbarer Monster.

 

Exkurs zur „Macht der Bilder“ (die fast immer in 3 Schritten erfolgt: Zuerst das Bild/die Vision, dann der Text, dann wieder das Bild in unseren Köpfen und der Kunst):

 

In der Gotik (der lateinischen Westkirche) hat man diesen „Triumphbogen der Apk“ inclusive der Monster an den Westportalen der Dome abgebildet, im Inneren der mittelalterlichen Kirchen (bes. der griechischen Ostkirche) in Fresken und Mosaiken. Interessant dabei: In der Hoch-Renaissance, der Wiedergeburt der Antike, erlischt das Interesse daran, während es in der Kunst und manchen Liedern des 30-Jährigen Krieges wieder auflebt (dunkle/helle Geschichtsphasen).

 

 

Zurück zum Bild des „Triumphbogens“: Hier geht es um die Dimension der Macht, die sich geschichtlich zeigt. Auch Johannes ist an den Mächtigen und dem Verlust ihrer Macht orientiert. Am Ende zeigt Gott seine Macht. Exemplarisch (und wie in einem Sciencefiction-Film) zeigt sich das in Kap 13 und dann 18, dem Untergang Babylons/Roms. Insofern hat die Offb. des Johannes aus heutigem Empfinden auch subversive Züge.

 

Insofern scheint mir die Frage spannend: Was wäre gewesen, wenn statt Rö 13 (Titus 3 u.a.) Offb 13 zum Leittext für das Verhältnis von Staat und Kirche geworden wäre? Der Staat also nicht als „Dienerin Gottes“ mit dem Schwert, sondern vom Teufel mit seiner Macht ausgerüstet? Die Kirchen wären dann bestimmt keine staatsragenden Volkskirchen geworden, sondern kleiner, machtloser und freier. Entgegen den Befürwortern dieses Weges vielleicht aber auch Wegbereiter des Anarchismus?

 

6. Ehe ich zum Schluss komme („wie sich die Apk als Hoffnungstext lesen lässt“), etwas vorsichtiger: Lässt sich die Offb wenigstens als Korrektiv kirchlicher und gesellschaftlicher Denkmuster lesen?

 

Ich greife dazu noch einmal auf die beiden ambivalenten Aspekte des Dualismus und der Geschichtstheologie zurück:

 

a) Der Dualismus. Ich finde ihn theologisch und heilsgeschichtlich nach wie vor fragwürdig. Aber könnte er (und mit ihm das ganze Buch) nicht als Korrektiv einer Kirche gelesen werden, die dem Pluralismus verhaftet ist? Genauer noch, ein Korrektiv für ein liberales Christentum, dem durch die Offb mehr Eindeutigkeit, mehr Entschiedenheit und Klarheit zugemutet wird?

 

Gewiss nicht im Sinne einer Aufkündigung liberalen Denkens. Obwohl das gegenwärtig ja oft genug geschieht, wenn (eigentlich) liberale Positionen mit einer fundamentalistischen Wucht, bisweilen in diktatorischer Schärfe so vorgetragen werden, dass man den Eindruck hat: Hier wird die Freiheit des Denkens dem Diktat des Dualismus geopfert. Auf diese Weise schadet sich der Liberalismus in dem, was er sein will: Frei und tolerant. Vor allem aber schadet er seiner Durchsetzungskraft und überlässt das Feld den schnell geschlossen Formationen rechter, konservativer Haltungen.

 

Insofern: Dualismus ist m.E. partiell notwendig, aber nicht auf allen Feldern und schon gar nicht als Grundhaltung. Da eine solche Grundhaltung aber zu den Markenzeichen der Offb gehört, kann ich das Buch nur als ein infrage stellendes Korrektiv lesen, sozusagen als Stachel im Fleisch, das argumentationsmüde oder auch konfliktscheu zu werden droht.

 

b) Zur Geschichtstheologie, die großartig, aber auch ambivalent ist: Vom Ende der Geschichte her überschaut der Apokalyptiker gleichsam aus der Perspektive Gottes die Geschichte. Von diesem Standort aus sieht er, unter welchen Umständen sie auf ihr Ende zurast. Obwohl der Seher eigentlich nicht zum Berechnen der Zukunft anleiten will, tut er es. In diesem Untergangsszenario ist von der Geschichte nichts Gutes mehr zu erwarten. Eine Reparatur ist ausgeschlossen. Vielmehr sieht (unter dem Gesichtspunkt eines neuen Himmels und einer neuen Erde) das Alte, das dann vergangen ist, wirklich alt aus. Die erste Schöpfung, unsere Welt also ein Fehlstart? Ein missglückter Versuch, weil es doch nicht „sehr gut war“?

 

Auch hier kann ich die Offb nur als Korrektiv lesen, als Infragestellung unseres immanent gedachten Fortschrittsglaubens. Die Vorstellung aber, dass dieser Welt nur durch Zusammenbruch zu helfen sei, finde ich zynisch. Da ist mir Paulus lieber (und wohl auch empirisch „gesicherter“): Für ihn beginnt die „Neue Schöpfung“ in der Gegenwart durch Taufe und Geistbegabung, nicht wie für den Apk erst in einer - wenn auch nahen - Zukunft.

 

(Zwischenbemerkung: Robert Folger greift viel kürzer, er versteht nur einen Ausschnitt des Ganzen als Apokalypse, nämlich Systemzusammenbrüche oder den Untergang von Nationen bzw. Kulturen; in der Offb geht es indes nicht um Transformation, sondern um eine radikale Wende)

 

Der Trost solcher Geschichtstheologie heißt aber: Trotz und gerade in den gegenwärtigen Schrecken: „Gott sitzt im Regimente“. Sein Recht wird Recht behalten, es wird für alle Gerechtigkeit geben.

 

7. Daher: Am Ende wird Freude sein. Der einzige Text, den ich vorbehaltlos als Hoffnungsbotschaft lese, ist Offb 21. Hier wird auch der Unterschied zur modernen Apokalyptik deutlich: Christentum (und Islam) haben die Zukunft immer erhofft als ein Neues. Gegenwärtig wird die Zukunft aber nicht erhofft, sondern gefürchtet – mit der unterschwelligen Angst, dass die Katastrohen nichts anderes offenbaren als sich selbst.

 

Freilich muss man sich auch im Blick auf die Apk klar machen: Dieser 2. Äon, der neue Himmel und die neue Erde, bei der Gott unter den Menschen wohnt, ist terra incognita. Selbst der Seher Johannes kann sie nur in Negationen dessen, was Menschen kennen, beschreiben: Die erste Erde wird nicht mehr sein, keine Tränen werden fließen, kein Leid wird mir widerfahren, aber auch nicht mehr von mir ausgehen. Keine Schreie und Naturgewalten.

 

Dennoch, auch und gerade dieses Nichtwissen tröstet. Es stärkt die Hoffnung. Wie ein Kind im Herzen eines Taifunes kann ich dann mit Johann Frank (1653) singen, jenes Lied, das am stärksten apokalyptisches Lebensgefühl wiedergibt: Jesu meine Freude (EG 396, Strophen 2 und 3):

 

„Unter deinen Schirmen/bin ich vor den Stürmen / aller Feinde frei. Lass den Satan wettern, / laß die Welt erzittern/mir steht Jesus bei. Ob es jetzt gleich kracht und blitzt, / ob gleich Sünd und Hölle schrecken, / Jesus will mich decken.

 

Trotz dem alten Drachen, / trotz dem Todesrachen,/Trotz der Furcht dazu!/Tobe, Welt, und springe; / ich steh hier und singe/in gar sicherer Ruh. / Gottes Macht hält mich in acht, / Erd und Abgrund muss verstummen, / ob sie noch so brummen.“

 



Themenabend Apokalyptik mit M. Frenschkowski

 

Hier findet ihr die Aufzeichnung des Vortrags zum Thema Apokalyptik von Prof. Frenschkowski, gehalten am 10. März 2021.


FASTEN - MEINE  INNERE  APOKALYPSE?

Siebenmal Abbruchgedanken - Alex Hanke

 

20.03.2021                 Mein altes Gottesbild begegnet mir auch dann, wenn ich einen Gottesdienst besuche und mich in die Liturgie fallen lassen möchte. Dies fällt mir schwer, da ich an manchen Formulierungen hängenbleibe, über sie stolpere…

 

- „Christe, du Lamm Gottes, …“ – hier kommt unweigerlich die Opfertheologie in meinen Sinn,

 - die Anrede „Herr“ – hierarchisches Beziehungsgefüge zwischen Gott und Mensch,

 - „Vater unser…“ – warum nicht Mutter oder beide Anredeformen oder eine ganz andere wählen...

 

 Es ist schwierig, eine Liturgie, ein Gebet, welche(s) viele Menschen miteinander teilen, zu verändern. Viele Menschen, die sich mit Liturgie beschäftigen, suchen nach anderen Formulierungen und nutzen diese auch, was mich in der Kirche wieder heimischer werden lässt.

 

Wie möchte ich damit umgehen, damit mein Gottesdienstbesuch nicht aus diversen Stolpersteinen besteht?

 

In einem Interview mit Ina Praetorius (feministische Theologin) habe ich gelesen, dass auch sie um andere Formulierungen ringt. Sie wählt beim „Vater unser“ die Anrede „Du“ – es kann so einfach sein. Mit dieser Umformulierungsanregung werde ich das nächste Mal das „Du unser“ beten, vielleicht fällt es mir dadurch leichter.

 

Ich wünsche mir eine Diskussion innerhalb der Kirche über die Liturgie und ihre beinhaltete Theologie. Welche Stolpersteine haben andere Menschen?

 Ich wünsche mir Mut zur Veränderung bzw. erst einmal Mut zur Auseinandersetzung über liturgische Formen miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn es heißt ja nicht „geheiligt werde dein Wortlaut“ (Ina Praetorius).

 

 „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ (Rumi, persischer Gelehrter aus dem 13. Jahrhundert)

 

 

 

 

13.03.2021      Mir begegnete in dieser Woche in der Zeitschrift „PublikForum“ (5/2021) ein Artikel von Eugen Drewermann mit dem Titel: „Soll man den strafenden Gott vergessen? – Ja, denn nur die Güte Gottes heilt“. Seine Gedanken schließen an vergangene Woche an – nämlich Feuer zu legen, an den Tempel meiner Überzeugungen.

 

Drewermann stellt die These auf, dass jeder, der leidet, weiß, dass wir einzig aus Gnade leben. Er verneint die Ansicht, dass man einen strafenden Gott benötige, damit man wisse, was Gnade überhaupt sei.

 

Der Kern der Botschaft Jesu sei, dass Gott bedingungslos vergibt aus reiner Güte, nicht weil Menschen durch gute Werke darauf Anspruch hätten. An diese Güte Gottes zu glauben, verleihe uns das zu tun, was gut sei; dies schenke innere Freiheit in Vertrauen und Vergebungen – nur eine solche Haltung heile.

 

Und wo bleibt das Gesetz? „Wer an Moral und Gesetz glaubt, muss sich berufen auf das, was er ist und kann“, so Drewermann. Jesus wandte sich gerade denen in der damaligen Gesellschaft zu, für die kein Raum vorhanden war, Zöllnern, Prostituierten… Seine Radikalität bestehe darin, dass er Gerechtigkeit nicht nach menschlichen Maßstäben versteht: „Gerechtigkeit im bürgerlichen Sinne als Zuteilung von Lohn und Strafe hat keine Geltung mehr“. Gnade sei das Ende von Gesetzlichkeit im Ganzen.

 

Unser Leben sei ein Geschenk Gottes – er möchte, dass wir sind, was wir sind. „In allen Augenblicken, die uns wirklich wichtig sind, machen wir die Erfahrung: Was uns guttut, was uns heilt und was uns hilft zu leben, ist das Erleben, akzeptiert, gemocht und unbedingt genügend zu sein.“ Strafe erzeuge Angst und dies sei nicht menschenwürdig.

 

Drewermann beendet seinen Text wie folgt:

 

„Wir leben menschlich allein aus Gnade. Fürchterlich ist da kein Gott, der strafen würde, furchtbar ist einzig unsere Neigung, aus alter Angst den Neuen Bund der Gnade abzuweisen. […] Reifen in Gottes Liebe – das allein ist seine Art zu `strafen`. Sie ist gerecht, weil sie gerecht wird jedem Leid der Welt, - weil sie das `Böse`, statt es zu bekämpfen, überliebt. […] Seit Ostern ist die Hölle überwunden.“

 

Die Erfahrung des „Überliebens“ habe ich selbst in meinem Leben erfahren – Jahrzehnte des inneren Leidens hat Gott im wahrsten Sinne des Wortes „überliebt“, obwohl ich mich vehement dagegen gewehrt habe – denn Heilung muss man wollen, denn diese bedeutet auch, dass man alte Gewohnheiten verlassen muss; es sind zwar Strukturen, die einen zerstören, aber paradoxerweise dennoch Sicherheit geben. Und in meinem Sprung in ein neues, anderes Leben hat Gott mich aufgefangen. In meinem alten Leben bin ich voller Angst durch das Leben gegangen, ständig war ich auf der Hut, ständig in Fluchtbereitschaft. Heute kann ich mit geradem und offenem Blick der Welt begegnen. Warum fällt es mir so schwer, diese eigene Erfahrung so zu verinnerlichen, dass sie auch mein Gottesbild verändert? In der kommenden Woche möchte ich dankbar Rückschau halten auf die Befreiung aus den Fesseln meines alten Lebens – um dann, Neues wagen zu können.

 

 

09.03.2021        Und wie fülle ich nun diesen Frei-Raum? Wie kann es mir gelingen, die alten tradierten Bilder, die mich behindern, beiseite zu stellen, sie für mich abzuhängen? Welche Bilder existieren noch? Ich habe mich auf die Suche begeben und folgende gefunden:

 

Ein Du – die immerwährende Liebe, die immer da ist – eine Kraft, die mich gehen lässt – ein weißes Blatt – ein Licht – eine Sonne, die Leben wachsen lässt – ein unendliches Meer – Weite – eine sanfte Brise – eine Welle – ein Geheimnis – unendliche Kraft – ein dauernder Neuanfang – ein Prozess – ein Netz, das mich hält, wenn ich falle – Befreiung – singende Stille – eine Herausforderung – Innen und Außen – Grenzenlos - …

 

Ich meditiere über diese Gottesbilder; versuche, sie auf diese Weise zu verinnerlichen. Dabei begegnet mir immer wieder, dass ich nach etwas Greifbarem, Festem, Definiertem suche – und doch sehne ich mich nach Freiheit. Zu diesem meinem Dilemma habe ich folgende Geschichte gefunden:

 

„Eine Weisheitsgeschichte handelt von einem Schüler, der es leid ist, dass sein Meister ihn immer infrage stellt. Der Meister scheint nichts anderes im Sinn zu haben, als die mühsam erworbenen und hochheiligen Überzeugungen seines Schülers zu zerstören. Als der Schüler sich beschwert, erwidert der Meister: Ich lege nur Feuer an den Tempel deiner Überzeugungen. Wenn er erst einmal niedergebrannt ist, wird dein Herz leuchten und du wirst eine ungehinderte Sicht auf den weiten, grenzenlosen Himmel haben.“

 

Feuer an den Tempel meiner Überzeugungen legen – das klingt befreiend…

 

 

[Meine Gedanken basieren auf folgendem Buch:

Marion Küstenmacher, Der Purpurtaucher. Vom inneren Wachsen mit Bildern der Mystik, Herder 2017, S.28-32]

 

 

28.02.2021       … „Ich bin da!“

 

Mein Weg der Gottsuche beginnt mit großer Unsicherheit. Ich merke dies auch in der Auseinandersetzung mit meinen Religionsschüler:innen. Sie spüren meine Suche, meine Fragen – und wünschen sich doch fertige Antworten, die es in Bezug auf die Gottesfrage nicht geben kann – außer eine: Die Antwort ist offen.

 

Viele Bilder lassen sich von Gott in der Bibel finden; auch Bilder, mit denen ich Schwierigkeiten habe, z.B. das Bild des strafenden und richtenden Gottes. Aber vielleicht habe ich auch „nur“ Probleme mit den bisherigen Auslegungen dieser Bilder.

 

Während eines sonnigen Spazierganges kam in mir die Geschichte von Gottes Offenbarung im brennenden Dornbusch in den Sinn (2. Mose 3,1-14). Beim Nachspüren wurden für mich zwei Aspekte wichtig:

 

·       Mose soll die Schuhe ausziehen, denn es sei heiliger Grund, den er betrete. In diesem besonderen Raum offenbart sich Gott ihm. Es ist ein abgetrennter Raum, ein besonderer, der sich vom menschlichen Lebensraum unterscheidet. Gott offenbart sich auch nicht in einer Gestalt, sondern in einer Naturerscheinung.

 

Welchen FREIraum eröffnet dies in mir? Bin ich überhaupt offen für Gottes Begegnung mit mir? Oder verstellen mir meine alten Bilder den Blick? Verhindern gerade sie eine neue Begegnung, die ich mir doch ersehne? Alte Denk- und Bildmuster möchte ich lernen, hinter mir zu lassen… Jedoch aber auch nicht gänzlich: Denn Gott sagt auch: „Ich bin die Gottheit deiner Eltern.“ Traditionen an sich müssen nichts Schlechtes sein – aber es gilt sie zu hinterfragen, sie unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten, Wortkrusten aufzubrechen…

 

·       Gott offenbart sich mit einem Wort, das nicht übersetzt werden kann. Versuche lauten: Ich bin da. Ich werde sein, der ich sein werde. Geheimnisvoll… Oftmals habe ich mich über diese Aussage geärgert – warum antwortet Gott so unkonkret? Warum entzieht „er“ sich? Denn ich möchte gern etwas Genaueres vor Augen haben. Doch genau dies geschieht nicht. Vielleicht ist dies auch eine Chance? Die Möglichkeit einer immer neuen Begegnung mit dem Göttlichen, die immer offen sein wird? Jedoch mit der Zusage, dass „sie“ da ist und immer da sein wird.

 

Dies zaubert ein Lächeln in mein Gesicht und lässt mich nach Gott suchen.

 

 

 

16. Februar 2021          Zum Thema Fasten existieren vielfache Wegbegleiter – Kalender, Bücher, Newsletter… Und jetzt auch hier. Warum? Ich möchte einladen, sich auf einen Begegnungsweg über den eigenen Abbruch, Umbruch zu begeben, denn dies bedeutet Apokalypse – dem Jahresthema unseres Forums.

 

Wo liegt die Chance eines solches Abbruchs in meinem Leben? Was trage ich schon lange mit mir herum und will es loswerden?

 

Fasten bedeutet für mich Verzicht auf Nahrung; nicht um des Abnehmens willen, sondern um innerlich frei und offen zu werden für Neues – Altes verabschiedet sich und mein Blick kann in die Ferne schweifen, neue Perspektiven suchen.

 

Wo liegt mein persönlicher Steinbruch? Auf welche Entdeckungsreise möchte ich mich begeben in der Fastenzeit? Eine neue Gottesbegegnung wagen – dieser Wunsch besteht schon lange in mir. Aufgewachsen bin ich in einer pietistischen Gemeinde, in der Gott auch der Strafende war; einer, der ein gewaltvolles Opfer benötigt, um die Beziehung mit seinen menschlichen Geschöpfen heilen zu können. Einer der sagt: Egal, was du tust, du bist und bleibst Sünder – von allein kannst du nichts, deinen Wert erhältst du erst durch meine Erlösungstat. Es konnten feste Aussagen über Gott getroffen werden und diese bekamen Macht über meine Gedanken und mein Leben. Noch immer (auch nach einem Theologiestudium) kommen solche Gedanken hoch, wenn ich an Gott denke, mit ihm in Kontakt treten möchte. Diese Prägung sitzt tief. Vielleicht hatten diese Bilder auch einmal eine positive, weil schützende Bedeutung, doch jetzt behindern sie mich auf meinem Weg.

 

In den kommenden sieben Wochen möchte ich einen Abbruch wagen – möchte es wagen, Gott neu zu denken; möchte offen werden/sein für Gott im umfassenden Sinn. Will mich vom alten Gottesbild verabschieden und gespannt sein, auf eine neue Begegnung mit dem göttlichen Geist.

 

Von dieser Reise möchte ich erzählen – es wird fragmentarisch und prozesshaft sein – so wie das Leben. Doch genau um dieses Aushaltenkönnen geht es für mich, denn eigentlich möchte ich etwas Fertiges in der Hand haben, Definitionsaussagen treffen können – doch Gott lässt sich nicht definieren – und für mich gilt es diese Freiheit zu entdecken.

 

 

 

 

Aufgesammeltes...

„Das Ziel der Apokalypsen, das herkömmlich vor allem in Trost und Erbauung gesehen wird, läßt sich allgemeiner als Weltdeutung und Existenzerhellung umschreiben, die dem Menschen sein Herkommen, seine Gegenwart und seine Zukunft begreiflich machen. Die theologische Leistung der Apokalyptiker liegt vor allem darin, daß sie komplexe Wirklichkeitserfahrungen ihrer Gegenwart reduzieren und das eigene Dasein in umgreifende Zusammenhänge einordnen. Es geht darum, die hoffnungslose Situation der Gegenwart zu deuten, um in dieser Lage Hoffnung zu gewähren, die eine Paralyse der negativen Welterfahrung bewirkt. Daher setzt der Apokalyptiker den Realitäten seines Lebens andere, auf Offenbarung gegründete und von Gott gesetzte Realitäten entgegen. Der markante Ausdruck hiervon ist der sog. Dualismus, der als das wesentlichste inhaltliche Merkmal der Apokalyptik gilt.“ (Münchow, C.: Ethik und Eschatologie. Ein Beitrag zum Verständnis der frühjüdischen Apokalyptik, Berlin 1981, S. 124)


Das Leben in Zeiten der Corona/Apocalypse Now

 

Ἀποκάλυψις - Apokalypsis: Enthüllung, Offenbarung.

ἀποκαλυπτεω - apokalypteo: enthüllen, entblößen.

 

 Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, wurde in Zeiten großer Bedrängnis geschrieben. Nicht in Zeiten einer Pandemie, soweit wir wissen, aber in Zeiten politischer Unterdrückung und großen Einschränkungen des religiösen und privaten Lebens zugunsten des römischen Kaiserkultes.

 

 Der Brief, der an viele Gemeinden verschickt und dort vor der gesamten Gemeinde verlesen wurde, sollte vor allem trösten. Er ermahnt auch zur Umkehr, aber unter den Vorzeichen, dass Gott in Jesus eine Welt ohne Schmerzen, eine Welt voller Schönheit vorbereitet hat, und diese nicht mehr weit entfernt ist.

 

 Auch wir erleben eine Zeit der Apokalypse. Aber nicht im umgangssprachlichen Sinne eine Zeit des Weltuntergangs, sondern eine Zeit der Enthüllung. Es wird offen gelegt, was vorher schon da war. Und es wird aufgedeckt, was möglich ist.

 

 Es wird offenbar, dass ein rein individualistisches Denken nicht kongruent ist mit der Realität der Interdependenz zwischen uns Menschen und unserer Mitwelt: mein Schicksal hängt von deinem ab. Und nicht nur von deinem, sondern von den Verwundbarsten in unserer Mitte.

 

 Wenn du aus dem Skiurlaub aus Ischgl zurückkehrst und vielleicht selbst keine Symptome zeigst, kannst du trotzdem andere Menschen anstecken, die den Virus wiederum weitergeben und zur Ausbreitung beitragen. Ein buchstäblicher Reissack, der in China umfällt, hat sehr wohl Auswirkungen auf unseren Alltag hier in Dresden. Corona verdeutlicht, dass globale Verstrickungen nicht einfach nur gut, aber auch nicht einfach nur schlecht sind. Dass wir auf internationale Zusammenarbeit beim Erforschen eines Impfstoffs angewiesen sind.

 

Diese Interdependenz zeigt sich an komplexen Abläufen, die die monatelangen Waldbrände in Australien befeuert haben, oder an der Versauerung der Meere, die Ökosysteme dominoartig zusammenfallen lassen, genauso wie im sozialen Bereich: „Ich bin nicht frei, solange noch eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Fesseln trägt als ich.“ sagte schon Audre Lourde. Die positive Seite der Medaille: Planetare Solidarität ist möglich.

 

Aufdecken, dessen was ist

 

 Es zeigt sich gerade besonders scharf, welche Menschen oder welche Berufe „systemrelevant“ sind und wie heftig der Kontrast zur gesellschaftlichen Wertschätzung ist. Müllfahrer*innen, Pflegepersonal, Kassierer*innen, Kindergärtner*innen — all dies sind Berufe, die das Leben, wie wir es gewohnt sind, aufrecht erhalten. Und trotzdem ist die finanzielle Entschädigung (in der sich Wertschätzung in unserer durchökonomisierten Gesellschaft nun mal ausdrückt) alles andere als angemessen.

 

 Corona deckt auf, dass unser Wirtschaftssystem, das auf ständiges Wachstum ausgerichtet ist, keinen Krisen standhalten kann. Warum müssen Krankenhäuser eigentlich Umsatz machen, wenn sie so nicht in der Lage sind eine humane, menschengerechte Versorgung zu gewährleisten? Es reicht eine flächendeckende Krankheitswelle und „die Wirtschaft“ muss „gerettet“ werden: also Milliarden an Unterstützung erhalten. Wo ist diese Unterstützung, wenn es um echte Menschen geht, und nicht um juristische Personen und Institutionen wie Banken oder Aktien? Momentan stehen viele Freischaffende, Künstler*innen und Selbstständige am Rande ihrer Existenz.

 

Inzwischen ist offenbar, dass die Kürzungen im Sozialsystem der Vergangenheit nicht haltbar sind. Es zeigt sich, dass unter Krisen vor allem jene leiden, die sowieso schon von uns und der staatlichen Versorgung abhängig sind. Dass die Verletzlichsten unter uns keinerlei Schutzmöglichkeiten haben außer unserem guten Willen. Ein schwaches Sicherheitsnetz.

 

Wir sehen jedoch nicht nur das, was schief läuft, sondern Corona öffnet uns auch die Augen für das, was möglich ist: Hunderte von Nachbarschaftsnetzen sprießen aus dem Boden, Musiker*innen und Autor*innen stellen ihre Werke zum freien Genuss ins Netz, und Kontakte, die sonst eingeschlafen wären, werden nun wiederbelebt.

 

Entdecken dessen, was möglich ist

 

 Erst vor zwei Wochen haben wir Mitarbeitenden der Ev. Gemeinde Frieden und Hoffnung in Dresden überlegt: „Was wäre, wenn…?“. Wir haben rumgesponnen: „Was wäre, wenn wir Kinder entscheiden lassen, wie sie Kirche haben wollen?“ „Was wäre, wenn wir schauen, auf wessen Kosten wir gerade leben und dann versuchen daran was zu ändern?“ „Was wäre, wenn, wenn wir besonders viel zu tun haben, besonders viel beten würden?“

 

 Unter anderem haben wir auch darüber nachgedacht, was wäre, wenn „wir alle kirchlichen Aktivitäten auf 0 setzen würden und dann alle Gemeindeglieder sagen würden, dass will ich im nächsten halben Jahr machen?“

 

Dieser Zeitpunkt ist nun sehr viel früher und radikaler eingebrochen als es irgendjemand von uns vermutet oder gar gehofft hätte. Alle Gottesdienste und gemeinschaftlichen Aktivitäten wurden eingestellt und Dienstberatungen finden größtenteils über Telefonkonferenzen statt. „Sei vorsichtig, wofür du betest“ ist eins der geflügelten Kirchenwörter, das immer mal wieder so rumschwirrt.

 

Auf 0 gesetzt. Fast

 

„Was wäre, wenn wir bekommen, was wir brauchen?“ Wir haben für diesen Reboot der Gemeinde oder der Gesellschaft nicht gebetet. Aber was, wenn wir einen solchen Einschnitt brauchen, um unser Denken ganz radikal, von der Wurzel auf, umzulenken? Eine andere Art des Lebens und des Miteinanders vorzustellen. Einen neuen Weg einzuschlagen.

 

In Venedig, wo seit dem 08. März die Quarantäne ausgerufen ist, kehrt wieder eine gewisse Ruhe und Klarheit in die Natur zurück. Das Wasser, das von den Kreuzfahrtschiffen und tausenden Motorbooten verdreckt war, ist wieder glasklar und man sieht Fische durchs Wasser flitzen.

 

Die Fragen, die mich beschäftigen, und die uns immer schon in den „anders wachsen“-Gemeinden umtreiben — für die jetzt genau der richtige Zeitpunkt ist — sind: Was brauchen wir und was wollen wir? Wie möchten wir, dass unsere Welt aussieht, wie wollen wir miteinander umgehen? In was für einer Welt wollen wir leben? Und was glauben wir, sind unsere gottgegebenen Kräfte, Talente und Stärken, die wir dafür einbringen können?

 

Verschwenderisches Leben

 

Und noch viel wichtiger: Was für ein Leben hat Gott für uns in petto?

 

Wenn wir uns an der Schöpfung orientieren, sehen wir Leben im Überfluss. Es wächst mehr, als Lebewesen jemals essen können. Tiere und Pflanzen haben Zeit im Übermaß. Jesus gönnt sich ein Wüstenretreat von 40 Tagen! Das ist mehr als die meisten von uns Jahresurlaub haben.

 

Auch wenn ich persönlich nicht viel von der Rhetorik von „Gottes Plan“ halte, bin ich der tiefsten Überzeugung, dass Gottes Reich ein Leben in Fülle für alle verheißt. So wie Gott sich in der Schönheit und im Reichtum seiner Schöpfung verschwendet, so wie sich Jesus in Liebe zu den Menschen verschwendet und so wie z.B. die Frau ihr kostbares Öl für Jesus verschwendet, so verschwenderisch stelle ich mir ein Leben aus Gottes Segen heraus vor!

 

„Gönn dir!“ im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Die Lüge (und dieses Wort verwende ich nicht leichtfertig), unter der wir leben, ist das Gefühl des Mangels. Wir haben nicht genug. Wir leisten nicht genug. Wir sind nicht genug. Angeblich.

 

Die Urbotschaft des Evangeliums ist das gebrochene Gegenteil: Ganz am Anfang der Schöpfungsgeschichte spricht Gott allen Geschöpfen zu, dass sie gut seien, sogar sehr gut. In vielen Erzählungen wird dann klar, dass wir Menschen aber trotzdem auch viel Mist verursachen und „von Grund auf böse“ sind (Noah, Gen 9). Die Lebens-, Sterbens-, und Auferstehungsgeschichten Jesu führen uns vor Augen, dass die Sünde und der Tod in und um uns jedoch nicht das letzte Wort haben werden. Gott, die Liebe, die Hoffnung ist stärker. In jeder Situation, in der Menschen verschwenderisch umgehen, anfangen von den Balkonen zu singen, mit Kreide auf der Straße malen, einfach weil sie es können, bei jedem Fest, das wir feiern, leuchtet diese göttliche Verschwendung auf und zeigt, wie ein Leben in Fülle aussehen kann.

 

Mit diesem Diktum der Fülle, der Verschwendung, des Rechts auf Luxus liegt dem christlichen Glauben ein zutiefst antikapitalistischer Gedanke inne: wir haben nicht zu wenig, sondern mehr als genug, um ein gutes Leben zu führen. Du bist es wert geliebt zu werden. Mit all deinen Fehlern, mit all deinen Schwächen. Mit all deinen Stärken. Nicht wegen dem, was du leistest, bist du liebenswert und gut, sondern weil Gott jedes Geschöpf mit Liebe geschaffen hat und jedem Leben ein Wert innewohnt, der unhintergehbar ist. Weil Leben unverfügbar ist und wir diesem mit Ehrfurcht begegnen sollten.

 

Apokalyptische Hoffnung

 

Die Chance, die uns diese apokalyptische, enthüllende Quarantäne-Situation bietet, ist unseren Blick auf das zu lenken, was uns trägt und was uns erdet. Was macht unser Leben lebenswert und wie können wir das auch nach Corona anwenden?

 

Wie kriegen wir ein Miteinander in den Gemeinden hin, sodass Kirche nicht nur der Sonntagsgottesdienst ist, sondern dass wir als Gemeinschaft Kirche bilden? Wie können wir auch nach Corona die „systemrelevanten“ Pfeiler unserer Gesellschaft ausbauen und stützen? Und nicht nur auf politischer Ebene mit gerechter Bezahlung und sozialer Absicherung (die auf jeden Fall auch erfolgen muss), sondern auch auf Gemeindeebene?

 

Wenn wir keine Gottesdienste mehr auf YouTube halten müssen, lohnt es sich diese trotzdem weiterzuführen, um auch mit denen in Kontakt zu bleiben, die Sonntag morgens nicht zur Kirche gehen können? Wenn wir nicht mehr aufs Nachbarschaftsnetz angewiesen sind, wollen wir trotzdem in Verbindung bleiben, um auch weiterhin in Krankheitsfällen helfen zu können oder im Notfall die Kinder zu betreuen? Wenn wir wieder ganz geregelt im Supermarkt einkaufen gehen können, wollen wir trotzdem das Wissen unserer Groß- und Urgroßeltern zu Selbstversorgung wieder entdecken, um uns von globalen Lieferketten und deren intrinsischen Ungerechtigkeiten loszusagen? Wenn wir wieder im Alltag der Lohnarbeit angekommen sind, wollen und können wir trotzdem Zeit einplanen, um Bücher zu lesen, stricken zu lernen oder einen Online-Kurs zu einem Thema zu besuchen, das uns schon immer interessiert hat? Wenn wir die Illusion der Kontrolle und absoluten Sicherheit wiedererlangen, werden wir uns trotzdem Zeit zum Gebet nehmen, uns für fünf Minuten aus dem Alltag zurückziehen, um Gott zu lauschen?

 

Juliane Assmann

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Ein Text von Juliane Assmann
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