Vom Verstehen des Anderen

11 Thesen zur Hermeneutik von Matthias Klinghardt und Christian Schwarke

Einleitung

Das Verstehen biblischer Texte im kirchlichen Kontext steht unter zwei (erschwerenden) Bedingungen:

Zum einen sind die Texte über 2000 Jahre alt. Wer davon absieht, versteht vielleicht sich selbst, nicht aber den Text.

Zum anderen steht jede Lektüre der Bibel unter der Erwartung, dass der Text eine sinnstiftende, vielleicht sogar normative Bedeutung für die Gegenwart hat. Wer davon absieht, läuft Gefahr, die Bibel nur zur Bestätigung der zuvor anderweitig gewonnenen Erkenntnisse oder Positionen heranzuziehen.

 

1. Jeder Text ist zunächst fremd.

Jedem Text, den ich nicht selbst verfasst habe, begegne ich als etwas Fremden. Dass dies bei biblischen Texten oft anders wahrgenommen wird, liegt an der Rezeptionsgeschichte, deren Teil wir sind, sofern wir den jeweiligen Text bereits kennen. Was uns daran selbstverständlich erscheint, ist aber im besten Fall die vorangegangene Rezeption des Textes. Das ist im Fall individueller Lektüre ganz unproblematisch, wird aber beim Versuch gemeinschaftlichen Verstehens zum Problem, weil alle Rezipienten eine andere Rezeptionsgeschichte im Kopf haben. Wenn man einen Text in seiner Eigenheit verstehen will, gilt es, den Text in seiner Fremdheit zu entdecken.

Die historisch-kritische Exegese dient dazu, diese historische Fremdheit intersubjektiv und weitgehend unabhängig von den eigenen Voreinstellungen aufzuspüren.

 

2. Fremdheit ist die Bedingung von Verstehen.

Verstehen impliziert Innovation, das Erkennen von vorher nicht Gewusstem. Das schon immer zugehörige Eigene kann nicht verstanden werden, wenn es nicht zuvor fremd wird. Nur das Verstehen von Fremdem erschließt neue Möglichkeiten.

Verstehen als Wiedererkennen von Bekanntem dient der Selbstbestätigung, eröffnet aber keine neuen Perspektiven.

Es ist daher notwendig, Verstehen auch außerhalb der eigenen Tradition zuzulassen und zu suchen. Das Verstehen des Fremden (des Ungewohnten, des historisch Abständigen, des Irritierenden) hat als störende Unterbrechung des Normalen und Gewohnten selbst eine religiöse Dimension: Es unterbricht die Zwangsläufigkeit der Geschichte und wirkt darin befreiend.

 

3. Verstehen setzt die Differenz von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt voraus; diese ist festzuhalten.

Die Beschreibung von Verstehen als „Einrücken in den Traditionszusammenhang“ (Gadamer) ist unzureichend und entindividualisierend. Vorausgesetzt wäre nämlich, dass „Verstehen“ nur insofern zustande kommt, als die individuelle Subjektivität in der Allgemeinheit der

Tradition aufgeht (Horizontverschmelzung). Verstehen wäre dann kein subjektiver Akt, sondern eine Art objektiven Geschehens.

Dagegen muss an der Subjektivität des Verstehens festhalten werden: Verstehen funktioniert so, dass ein „Ich“ „etwas/jemanden“ verstehen kann (und muss!). Versuche, die Subjekt-Objekt-Spaltung durch die Tradition zu überwinden, sind mit dem Verlust von subjektiver Erfahrung zu teuer erkauft. In der Folge verliert auch die Interpretationsgemeinschaft neue Anregungen.

 

4. Verstehen – als Verstehen von Fremdem – schließt das Missverstehen ein.

„Missverstehen“ ist für den Prozess von Verstehen insgesamt unvermeidlich und produktiv.

Unvermeidlich, weil jede Lektüre (und Relecture) eines Textes aus einer anderen Situation heraus erfolgt: Niemand steigt zweimal in denselben Fluss; nie steigen zwei in denselben Fluss. Missverstehen ist daher der Normalfall von Verstehen, nicht aber das Ergebnis seines Scheiterns.

Fruchtbar ist das Missverstehen, weil es innovativ ist und auf diese Weise kreative und hilfreiche Lösungen ermöglichen kann. So hat Luther Paulus in zentralen Aspekten der Rechtfertigungslehre missverstanden, aber eben darin kreativ weiterentwickelt.

 

5. Von der Exegese als der Wahrnehmung des Fremden in Texten ist die Applikation (Anwendung) als andere Form des Verstehens zu unterscheiden, durch die der Text auf die jeweils gegenwärtige Situation bezogen wird.

Als fremde Texte wollen die Texte der Bibel uns zunächst einmal gar nichts sagen. Wir lesen sie aber in der Erwartung, ihnen etwas für uns oder für die Gemeinde Wichtiges entnehmen zu können. Die Übertragung der Leseerfahrung in unseren Kontext bzw. die Aneignung des Textes in unsere (gegenüber der Ursprungssituation des Textes fremde) Situation nennen wir Applikation.

6. Zwischen die Wahrnehmung von Fremdheit (Exegese) und die Aneignung (Applikation) muss notwendigerweise die hermeneutische Reflexion treten.

Die hermeneutische Reflexion muss klären, warum bestimmte Aspekte im Ursprungssinn des Textes als fremd empfunden werden: Sie muss den Grund der Differenzerfahrung benennen. Dies impliziert eine (selbst)kritische Beurteilung. Warum können wir etwas nicht mehr so sehen? Warum meinen wir, anderes genauso sehen zu können wie der Text.

Dies verlangt eine Sensibilität nicht nur gegenüber dem Text oder der religiösen Tradition, sondern auch gegenüber der Gegenwart mit ihren jeweils eigenen Erfahrungen.

 

7. Die hermeneutische Reflexion muss insbesondere die Interessen in den Blick nehmen, mit denen der Text gelesen wird.

Alles Verstehen, auch das der Bibel, ist interessegeleitet. Theologisch informierte Bibellektüre muss sich dessen bewusst sein und Rechenschaft ablegen können. Nur so lässt sich der hermeneutische Zirkel zwischen dem Text, der vermittelnden Tradition und dem gewünschten Lektüreergebnis partiell aufbrechen.

 

8. Alles Verstehen (in der Exegese und in der Applikation) ist geleitet von hermeneutischen Prinzipien, die uns immer voraus liegen und denen wir nicht entkommen können. Deshalb gibt es kein unmittelbares Verstehen.

Diese Prinzipien treten sowohl zwischen den Text und unser Verstehen des Textes als auch zwischen uns und unser Verstehen in der Anwendung auf die Gegenwart (Applikation). Es gibt kein unmittelbares Verstehen, das nicht von solchen Prinzipen geleitet wäre.

Für den Konfliktfall, in dem (für die Exegese oder die Applikation) das Verstehen strittig ist, wäre es daher wichtig, über diese hermeneutischen Prinzipien miteinander ins Gespräch zu kommen. Aber auch von einem geteilten Verständnis eines Textes führt kein direkter Weg zur Applikation. Denn die Entscheidung, ob man eine (fremde) Aussage zur eigenen machen will, nimmt einem weder ein Text noch der gegenwärtige Kontext von sich aus ab.

 

9. "Fremdheit" ist sowohl ein hermeneutisches Prinzip als auch eine theologische Kategorie. Indem man die Fremdheit biblischer Texte negiert und sich ihr nicht stellt, verfällt man dem Kreislauf des ewig Gleichen.

Wer keine neuen Erfahrungen mehr macht oder machen will, hört auf zu leben. Leben jedoch bedeutet, immer wieder aufs Neue mit dem Anfang anzufangen. Dazu dient die Wahrnehmung des Fremden. Und in dem Maß, in dem man sich am Fremden stört und darüber verwundert, ist Bereicherung und Leben möglich.

 

10. Wer die Fremdheit der Bibel nicht wahrnehmen will, benutzt sie nur zur Affirmation des Eigenen.

Das Überspringen der Fremdheit biblischer Texte dient dazu und führt dazu, die Bibel als Autoritätsverstärker für zuvor anderweitig gewonnene Erkenntnisse oder Intuitionen zu verwenden. Eine Folge davon ist, dass der biblische Text als Informationsquelle faktisch ausgeschaltet wird. Er verliert tatsächlich seine begründende Funktion, ist nicht mehr Richtschnur.

 

11. Verstehen muss man wollen.

Hermeneutik bedeutet die Begegnung und den Umgang mit Fremdheit. Sie impliziert, dass die Spannung durch Fremdheit nicht nur erkannt, sondern in der Exegese und der Applikation erhalten bleibt. Das ist nicht immer angenehm. Deshalb muss Verstehen gewollt werden, insofern man sich mit Fremdem (in der Exegese mit dem Text, in der Applikation mit den Menschen) konfrontieren will. Das ist die ethische Dimension der Hermeneutik. Verstehen ist eine Aufgabe.

 

 

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Kommentare: 2
  • #2

    Max Frisch (Freitag, 18 November 2016 11:33)

    Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedes Mal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind –nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muss es sein. Wir können nicht mehr! Wir kündigen ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch auf alles Lebendige, dass unfassbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, dass unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei.
    Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat ...
    Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen –Ausgenommen, wenn wir lieben.

  • #1

    A.Rau (Sonntag, 11 September 2016 19:49)

    Der christliche Glaube versteht sich als "Offenbarungsreligion". Er beruht auf einer Bewegung Gottes zum Menschen. Das Ziel dieser Bewegung ist Liebe. "Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele ..."

    "Abraham erkannte sein Weib". Um einen Menschen zu erkennen, braucht es Liebe. Denn Liebe überwindet die Fremdheit. Auch um die Bibel zu "erkennen" braucht es Liebe, die die Fremdheit überwindet. Im Ergebnis jubelt Jesus: "Ich preise dich, Vater ... weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart." Und er betont: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Reich Gottes nicht sehen." Auch Paulus hält fest: Der gekreuzigte Christus ist "den Griechen eine Torheit" ("den Gebildeten fremd" wäre sicher auch zutreffend übersetzt.)

    Wer die biblischen Texte als grundsätzlich fremd versteht, der wird sie nie "erkennen".