Einfach nur verjährt? Eine persönliche Betrachtung von Heiko Reinhold

Es blieb bisher merkwürdig ruhig in der sächsischen Landeskirche. Noch bevor „Der Sonntag“ im Advent 2021 eine Kurzmeldung veröffentlichte, hatte die Chemnitzer „Freie Presse“ Anfang Dezember ausführlich über Missbrauchsfälle im Rahmen der evangelischen Jugendarbeit in den 1960er und 1970er Jahren berichtet. „Der lange Schatten des Jugendwarts“ benennt den 2013 verstorbenen ehemaligen Karl-Marx-Städter Jugendwart Kurt Ströer als Täter.

Offensichtlich war diese Nachricht ein großer Schock für viele, die Kurt Ströer kannten und ihn in dankbarer Erinnerung haben. So gab es sofort Reaktionen, in denen seine vielen Verdienste benannt wurden und gleichzeitig Zweifel an den Vorwürfen ausgesprochen wurden. Aber es gab auch innerkirchliche Stimmen, die verlauten ließen „das haben wir schon lange gewusst“.

Mittlerweile sind mehr als 20 Betroffene bekannt – und wieder war es die „Freie Presse“, die darüber am 14. März 2022 ausführlich berichtete. Seitens der Landeskirche wird auf die wissenschaftliche Aufarbeitung des Forschungsverbunds „ForuM“ verwiesen, das auch den Fall Kurt Ströer mit aufgenommen hat. Ergebnisse sollen allerdings erst Ende 2023 vorliegen.

Die persönliche Verantwortung und Schuld des Täters steht außer Frage. Deshalb ist es schwer verständlich, wenn davon gesprochen wird, dass Ströers verdienstvoller Einsatz „ausgeblendet“ würde. Er dürfe nicht „in eine Ecke gestellt“ werden. Eine merkwürdige Ansicht zu strafrechtlich relevanten Handlungen. Nebenbei: Bei der innerkirchlichen Debatte um homosexuelle Mitarbeiter waren deren „Verdienste“ uninteressant. Ein Coming-out reichte mancherorts für Diskriminierung und ein faktisches Arbeitsverbot.

Es ist anzuerkennen, dass die Landeskirche eine „transparente und umfassende Aufarbeitung“ verspricht, auch wenn diese weitgehend externalisiert geschehen soll. Und beispielsweise gibt es seit 2011 den Verhaltenskodex der Evangelischen Jugend in Sachsen, der auch der Sensibilisierung dient. So ließe sich leicht argumentieren, dass die jetzt bekannt gewordenen Taten schon 50, 60 Jahre her sind und mittlerweile ein anderes Bewusstsein herrscht.

Unabhängig vom konkreten Fall stellt sich mir aber auch die Frage nach den zweifellos begünstigenden innerkirchlichen Rahmenbedingungen. Ich kenne die Jugendarbeit seit den 80er Jahren – sie hat mich wesentlich geprägt. Junge Gemeinde, Offene Abende, Rüstzeiten, Evangelisationen – all das war für viele Jugendliche mehr als Freizeitbeschäftigung – es war Identifikation, Freiraum, Sinn. Hier wurden Weichen für das Leben gestellt, Wege zum Glauben aufgezeigt, Kompetenzen vermittelt, musikalische und kreative Fähigkeiten entwickelt. Unzählige Freundschaften und Partnerschaften entstanden. Diese Arbeit war ohne Zweifel segensreich.

 

Mit dem Abstand einiger Jahrzehnte sehe ich aber rückblickend auch einige andere Seiten:

Oft waren es wenige „Autoritäten“ in der Jugendarbeit, die meinungsbildend waren und dabei kaum differenzierend vorgingen. Biblische „Klarheit“ und angebliche Eindeutigkeit ließen Pluralismus kaum zu. Die theologischen Aussagen entsprachen schon damals nicht immer dem allgemeinen Erkenntnisstand – so verkämpften wir uns noch immer am „Konflikt“ mit der Evolutionslehre und teilten die Menschen säuberlich ein in „Außenstehende“ und die, „die schon so weit sind“. Seelsorgerliche Kompetenz war nur bei wenigen Mitarbeitern wirklich vorhanden. Doch durch die Fixierung auf diese Einzelpersonen wurde vieles einfach als „richtig“ betrachtet, was aus heutiger Sicht teilweise sogar als gefährlich und seelischer Missbrauch eingeordnet werden muss – bis hin zu „schwarzer Pädagogik“ mit dem Schüren von Angst.

Diese Jugendarbeit war der innerkirchliche Mainstream – und für viele Heimat und Wohlfühlzone. Aber für viele andere Überzeugungen und Themen hatte sie keinen Platz. Und neben vielen positiven Erinnerungen erlebe ich bis heute im Bekanntenkreis die „anderen“ Nachwirkungen: Im Nachdenken über Himmel und Hölle – was entweder zu überhöhter Selbstgewissheit oder zu Versagens-Ängsten führen kann. Im Pflegen eines idealisierten Familienbildes, das der Realität selten standhält und keinen Platz lässt für abweichende Empfindungen. Im Bibelverständnis, in dem wenige Verse zur Begründung eigener Überzeugungen ausreichen. Und immer wieder auch im Hören auf wenige, meinungsbildende Personen mit eingeengtem Weltbild.

Ich frage mich, ob das in unserer Landeskirche wirklich so bewusst und unkritisch wahrgenommen wurde und wird. Ob erst nach Verjährung eine Aufarbeitung begonnen wird. Ob es damals schon eine Art Supervision gab. Ob die wichtige Freiheit der Verkündigung dazu führen darf, dass statt der frohen Botschaft mehr Angst verbreitet wird. Ob sich jemand für diese Fragen interessiert.

In der Erziehungswissenschaft hat es vor vielen Jahren einen Paradigmenwechsel hin zu den Erziehungszielen Mündigkeit und Emanzipation gegeben. Auch in unserer Landeskirche hat sich die Vermittlung von Glaubensinhalten entsprechend weiterentwickelt. Leider ist das in manchen Gemeinden noch nicht angekommen.

Damit stehen Glaubwürdigkeit und Akzeptanz – die für den Gemeindeaufbau unerlässlich sind – auf dem Spiel.

Ich wünsche mir eine Kirche als Ort geistlichen Wachstums, als Ort der Geborgenheit, der Vielfalt, der Offenheit. Ich wünsche mir eine Kirche, die Verantwortung übernimmt.

 

Heiko Reinhold

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Kommentare: 7
  • #1

    Juliane Keitel (Mittwoch, 20 April 2022 19:25)

    Ich kann den beschriebenen Wahrnehmungen und Einordnungen nur zustimmen. Es gibt - und das sieht man ja auch am Umgang mit Missbrauchsopfern in der katholischen Kirche - "zweifellos begünstigende innerkirchliche Rahmenbedingungen", wie Heiko Reinhold schreibt, und diese mach(t)en nicht nur den Missbrauch möglich, sondern wirken weiter nach auch bei der Aufarbeitung, wenn man das, was danach oder jetzt passiert, denn überhaupt so nennen kann. (Übrigens: der Link zur Aufarbeitung des Forschungsverbunds ist leider nicht mehr aktiv. Zufall?)

    Wenn die Kirche, zumal die sächsische, nicht langsam mal anfängt, ehrlich mit sich selbst zu sein und diesen Strukturen auf den Grund geht, dann hat sie wahrscheinlich nicht nur bei nachfolgenden Generationen keine Zukunft mehr, sondern konterkariert ihre eigenen Werte generell. Immer wieder wurde und wird die Auseinandersetzung mit autoritären Strukturen und theologischen Denkmodellen, die sexuellen Missbrauch begünstigen und auch dazu führen, dass Christ:innen sich dem Rechtspopulismus und auch -extremismus öffnen, dass Feminismus verteufelt wird, dass menschenfeindliche Ein- und Ausgrenzungen vorgenommen werden, dass Impfgegner:innen mit Bezug auf Verschwörungsmythen und Antisemitismus demonstrieren, weggeschoben. Im Gegenteil - sie alle dürfen auf der Synode, in der Kirchenzeitung "Der Sonntag" und auf mancher Kanzel ganz selbstverständlich zu Wort kommen und weiterhin meinungsbildend wirken. Wenn die genannten und andere Problemfelder mal bis in die synodalen Ränge gelangten, dann wurden lediglich "Gesprächsprozesse" angeregt, die an vielen Orten niemals stattfanden, und die nie dazu geführt haben, dass Probleme klar benannt und tatsächlich angegangen oder gelöst wurden. Der letzte Gesprächsprozess, den die Synode zur Unterscheidung wertkonservativ - rechtsextrem im November 2021 anregte, ist bestimmt in vollem Gange, nehme ich an? Anlässe und Stoff dafür gibt es ja zuhauf. (Ich bitte die Polemik zu entschuldigen...)

    Man darf gespannt sein, was der Kirchenleitung jetzt bei der Frage des Missbrauchs in den eigenen Reihen einfällt, um den Opfern gerecht zu werden und Verantwortung zu übernehmen, dass solche Taten verhindert bzw. wenigstens strukturell nicht mehr begünstigt werden. Kommen etwa wieder 'Gesprächsprozesse' auf uns zu, oder gibt es jetzt endlich ein Aufwachen, auch in der Kirchenleitung, mit einer klaren Position? Da die Ursachen tief in spezifischen theologischen Modellen und Haltungen verankert sind, darf sich eine Aufarbeitung nicht nur juristisch und nicht nur auf das grauenhafte Fehlverhalten Einzelner beschränken, sondern muss theologische Denkmodelle, kirchliche Strukturen, hermeneutische Zugänge zur Bibel etc. und deren (mögliche) Konsequenzen scharf in die Verantwortung nehmen und schauen, an welchen Stellen dringende Veränderungen nötig sind. Die Verantwortung reicht dabei über die kirchlichen Institutionen und deren Mitarbeitende hinaus: Man muss auch die 'christlichen' Familien im Blick haben, in denen sich autoritäre theologische Konzepte weiter fortsetzen und die Basis für häusliche Gewalt bieten, oder in denen Kinder, wenn sie durch Haupt- oder Ehrenamtliche Gewalt erfahren, nicht gehört werden. Das gilt übrigens auch für christliche Schulen.

  • #2

    Anne Veit (Sonntag, 24 April 2022 20:03)

    Danke für diese Stellungnahme und damit für einen Beitrag, dazu, das Thema nicht so schnell als "schon erledigte Vergangenheit" vom Tisch zu wischen.
    Ich denke auch, dass kirchliche Felder tatsächlich in besonderer Weise gefährlich sein können und dass es solche "strukturelle Begünstigung" (J.Keitel #1) von Missbrauch gibt und dass Kirche entsprechend aufgefordert ist, das gut zu analysieren.
    Patriarchale hierarchische Strukturen begünstigen Missbrauch grundsätzlich. In dieser Hinsicht ist Kirche hinter vielen "weltlichen" Institutionen weiterhin zurück.
    Hinzu kommt das Thema "Werte", das ja nun einmal in Kirche zentral ist. Wenn Personen (oder Gruppen) berechtigt sind, moralische Urteile auszusprechen, schafft das Abhängigkeiten, die Betroffene schweigen lassen.
    Wenn Gruppen sich scharf nach außen abgrenzen, möglicherweise sogar "die Anderen, Unerleuchteten" abwerten, dann machen sie es für Betroffene schwer, von Außen Hilfe zu suchen, weil sie sich zum Nestbeschmutzer machen müssten.
    Wenn eine Institution darüber hinaus, wie oben beschrieben, solche charismatischen, meinungsprägenden "Heldenfiguren" hat, werden diese in ihrem Verhalten von anderen Mitarbeitenden/Erwachsenen oft nicht hinterfragt, selbst wenn vorsichtige Anklagen im Raum stehen.

    Welche Wirkung "die christliche Familie" (J.Keitel #1) hat, darüber denke ich noch nach. Ich bin nicht sicher, wie sehr es das in der Praxis noch gibt. Andererseits wird dieses Bild ja doch immer wieder hochgehalten...

  • #3

    Juliane Keitel (Samstag, 14 Mai 2022 13:18)

    In der letzten Ausgabe des Sonntag (08.05.) gibt es einen Beitrag zum Thema von Landesbischof Tobias Bilz: https://www.sonntag-sachsen.de/2022/19/betroffene-nicht-allein-lassen.
    Es scheint so, als ob die Problemfelder in ihrer Komplexität gesehen und möglicherweise auch angegangen werden. Schade, dass dennoch auch Bilz seine Ausführungen beginnt mit einer Art 'Würdigung' der 'Lebensleistung' von Ströer. Das ist der Punkt, der mich zweifeln lässt, ob wirklich begriffen wird, worum es geht. Abgesehen davon, dass dieses Abwägen jetzt absolut nicht dran ist, vor allem auch im Blick auf die Opfer nicht, ist es auf Dauer auch nicht zu halten, von einer tollen Wirksamkeit und großen Leistung eines Sexualstraftäters zu sprechen. Denn selbstverständlich muss auch diese 'Lebensleistung' auf den Prüfstand. Sie ist doch genau innerhalb dieser Strukturen und dieser Theologie erbracht worden; sie konnte sich doch genau dort, in diesem Milieu, mit den Straftaten verbinden! Es war doch nicht alles gut, was Ströer auch außerhalb der Straftaten bewirkt hat. Heiko Reinhold hat es angedeutet: Bei ihm und bei vielen seinen Nachfolgern handelte es sich um auroitär agierende Personen (meistens Männer), die undifferenziert in richtig und falsch einteilten, keine Pluralität zuließen, dualistische Weltbilder verbreiteten. Ich muss sagen: kein Wunder, dass da dann auch noch Missbrauch zu finden war/ist. Man kann schlecht "das Richtige im Falschen" tun (frei nach Adorno: Es gibt kein richtiges Leben im falschen.).

  • #4

    Juliane Keitel (Samstag, 14 Mai 2022 13:25)

    Zu #2: Was die Frage nach der "christlichen Familie" anbelangt - da habe ich natürlich keine Zahlen oder so. Mein Eindruck ist nur, dass diese als Bild und auch als Druck auf vielen Menschen lastet (nicht nur auf Personen und Familien in christlichen Milieus), unabhängig davon, ob es diese tatsächlich so gibt. Aber starke, normativ-idealtypische Bilder, das Streben nach ihnen und das Scheitern an ihnen, reichen ja oft aus, dass sich Frust und Gewalt Bahn brechen.

  • #5

    Michael Kaufmann (Freitag, 20 Mai 2022 11:37)

    Ich bin in einer christlichen Familie aufgewachsen und bin sehr dankbar dafür. Ich habe dies weder als Druck erlebt noch hat sich Frust oder Gewalt aufgebaut. Meine Eltern lebten uns Kindern den Glauben an Jesus Christus vor, erklärten diesen und machten immer wieder klar dass auch sie auf Vergebung angewiesen sind. Wir hatten als Kinder immer die freie Entscheidung den Glauben an Jesus anzunehmen oder nicht. In dieser Freiheit aufzuwachsen war ein großer Segen im Gegenteil zur Unterdrückung in DDR Zeiten.

  • #6

    Juliane Keitel (Montag, 23 Mai 2022 22:31)

    Zu #5: Da haben wir eine Gemeinsamkeit, Herr Kaufmann, und können uns glücklich schätzen.
    Ich kenne allerdings auch Menschen mit anderen Erfahrungen, insbesondere queere Menschen, denen unter dem Mantel des 'christlichen Glaubens' Gewalt angetan wurde. Auch als Religionslehrerin sind mir Kinder und Jugendliche bekannt, die in ihren christlichen Familien leiden und (sexuell) missbraucht wurden. Die Bibel bietet - wenn sie biblizistisch verwendet wird - leider etliche Anknüpfungspunkte, um gewaltvolle und manipulative Erziehung zu rechtfertigen. Davor sollten gerade wir, die wir gute Erfahrungen gemacht haben und christlichen Glauben und Familienstrukturen im Einklang erleben durften, nicht die Augen verschließen.

  • #7

    Gert Flessing (Freitag, 31 März 2023 11:35)

    Ein interessanter Artikel. Ich denke auch, das er wichtig ist. Missbrauch, innerhalb der Kirche habe ich nie erleben müssen. Ich erlebte aber, wie in der achten Klasse unser Klassenlehrer gern den Zeigestock manchen Mädchen auf den Oberschenkel legte und ein wenig unter den Rock fuhr. Später hatten wir einen Sportlehrer, der schon mal wegen seiner Übergriffigkeit eine Parteistrafe erhalten hatte. Es ist also kein unbekanntes Phänomen.
    Natürlich war bei uns die Junge Gemeinde wichtig. Auch die Rüstzeiten und die Oberschülerrüstzeiten, bei denen, neben geistlichen vor allem politische Themen eine Rolle spielten. Wir sollten zugerüstet werden für den Kampf gegen das gottlose sozialistische System der DDR. Theologische Indoktrination lernte ich dabei nicht kennen, aber es waren ja auch die sechziger Jahre und so. Sexualität? Homosexualität? Kein Thema. In der achten Klasse wusste jeder, das unsere Schulleiterin lesbisch war und wir kannten die Frau, mit der sie zusammenlebte. Sie war keine schlechte Lehrerin, der Rest war (für mich) egal. Die Kirche habe ich eigentlich immer, in Punkto "Sexualität" für merkwürdig fern von Gottes Liebe gefunden. Sicher, ich bin in einer "christlichen Familie" aufgewachsen. Aber es war eine recht bürgerliche Christlichkeit.
    Ich bin sehr davon überzeugt, das Menschen, die Kindern und Jugendlichen gegenüber übergriffig werden, keinen Platz in der Jugendarbeit haben. Die Gesetze sind da. Die Kirche tut sich keinen Gefallen damit, solche dinge unter den Tisch zu kehren.