„Was ist Wahrheit?“ (Joh  18,38) Die Pilatusfrage im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext. Von Pastor Dr. Christoph Schroeder

I. Nicht weniger, sondern mehr Religion

Als Pontius Pilatus Jesus im Prätorium verhört, will er nur eines von ihm wissen: „Bist du der König der Juden?“ (18,33) Jesus erklärt ihm, er sei kein König mit weltlicher Macht: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (18,36). Doch damit gibt Pilatus sich nicht zufrieden. „So bist du dennoch ein König?“ (18,37), hakt er nach. Jesu Antwort: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“ (18,37). Damit nun kann Pilatus nichts anfangen. „Was ist Wahrheit?“, fragt er ratlos, vielleicht aber auch erleichtert, weil ihm dies eine rein akademische Frage ohne jede politische Bedeutung zu sein scheint.

In diesem kurzen Dialog spiegeln sich die beiden Haltungen, die religiös Distanzierte der Religion gegenüber zumeist haben. Da ist zum einen die Angst vor dem Machtanspruch der Religion: „Bist du der König der Juden?“ Sie kleidet sich heute in die Angst vor religiösem Fundamentalismus: Willst du einen messianischen Gottesstaat errichten? Da ist zum anderen, sobald das ausgeschlossen ist, die achselzuckende Gleichgültigkeit, mit der die Inhalte der Religion belächelt werden: Was ist schon Wahrheit …?

„Wo durch militärische Eroberungsfeldzüge mit dem Ziel der Errichtung eines ‚Islamischen Staates‘ oder durch terroristische Aktivitäten weltweit der Eindruck entsteht, dass der Öffentlichkeitsanspruch von Religion in seiner letzten Konsequenz zu Krieg und Gewalt führt, da scheint die Abwehr eines solchen Öffentlichkeitsanspruchs zunächst nur allzu nachvollziehbar.“1 So der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm im Vorwort zu dem Buch „Öffentlich glauben in einer pluralistischen Gesellschaft.“ Als Konsequenz werde deshalb oft, so beklagt er, „der völlige säkularistische Ausschluss aller Religionen aus dem öffentlichen Leben“ gefordert und damit „das Heraushalten der Religion aus dem öffentlichen Leben zum Dogma“ erklärt.2 Dass die Religion, der Glaube, etwas Lebensförderliches sein könnte und dass es neben der angstvollen Abwehr und der genervten Gleichgültigkeit auch andere Möglichkeiten gebe, mit ihrem Anspruch umzugehen, komme denen, die die vollständig säkularisierte Gesellschaft fordern, nicht in den Sinn. Dabei könnte, so Bedford-Strohm, „das Gegenmittel gegen religiöse Gewalt nicht weniger Religion, sondern – jedenfalls, wenn es um den christlichen Glauben geht, mehr Religion“ sein.3 Das Kreuz, das Zentrum unseres Glaubens, sei schließlich das Symbol nicht ausgeübter, sondern erlittener Gewalt. Das Christentum hat eine Vision vom guten Leben.

 

II. Religiöse Indifferenz

Für einen Großteil der Mitglieder der evangelischen Kirche, das ist das Ergebnis der letzten EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, hat ihr Lebensalltag keinerlei Berührungspunkte mit der Frage nach der Wahrheit. Sie bezeichnen sich selbst als religiös indifferent. „Mir ist die Kirche gleichgültig.“ „Ich brauche in meinem Leben keine Religion.“ „Ich kann mit dem Glauben nichts mehr anfangen.“ Kirche unglaubwürdig zu finden oder ihr gegenüber Gleichgültigkeit zu verspüren, das sind die von Austrittsbereiten und Ausgetretenen jeweils am stärksten befürworteten Austrittsgründe.4 Als religiös indifferent beschreibt sich auch die immer größer werdende Zahl der Konfessionslosen, also derer, die keiner Kirche mehr angehören oder die, wie im Osten, in Familien hineingeboren wurden, die bereits eine längere Geschichte der Konfessionslosigkeit haben. Konfessionslose sehen die von ihnen gewählte Lebensweise keineswegs als defizitär, sondern – im Kontext gesellschaftlich akzeptierter Indifferenz gegenüber Religion und Kirche – schlicht als normal an. „Familie, Arbeit, Beruf, selbst Freizeit werden von den meisten Menschen als wichtiger eingestuft als Religion.“5 Was ist Wahrheit? Die Frage scheint ihnen so egal und zugleich lästig zu sein wie Pilatus.

Und wie ist es mit den kirchlich Verbundenen? Halten sie sich vielleicht nur noch zur Kirche, weil es ihre Tradition ist, eine Konvention, ein Teil der Kultur, in die sie hineingeboren sind? Nehmen sie fatalistisch hin, dass demographischer Wandel und Säkularisierung die Kirche zu einem Auslaufmodell machen und sehen es nur noch als ihre Aufgabe an, den Abbau möglichst geräuschlos abzuwickeln? Wenn Religion eine Privatsache ohne öffentlichen Belang wäre, dann wäre das gerechtfertigt. Dann wäre die Kirche ein Verein wie der Sportverein, der Heimatverein, der Kegelclub: Gut für den sozialen Zusammenhalt. Ob dieser Verein aber als einer unter vielen noch weiter in der Gesellschaft präsent ist oder nicht, wäre dann letztlich egal.

Angst vor Fundamentalismus oder aber Gleichgültigkeit – werden diese beiden Reaktionen der Botschaft der Kirche gerecht? Der Glaube ruft nicht zur Gewalt auf. Er ist aber auch nicht bloß privater Natur. Die Kirche ist nicht nur ein Verein neben anderen. Es ist in einer multireligiösen Gesellschaft vielmehr Aufgabe und Verantwortung der Kirche, den Glauben öffentlich argumentativ zu verantworten, und zwar so, dass er auch für religiös Indifferente bis zu einem gewissen Grad einsichtig und nachvollziehbar wird.

Was ist die Wahrheit, von der die Kirche erzählen muss? Was ist ihre Botschaft in einer pluralistischen, multireligiösen, areligiösen Gesellschaft?

 

III. Wahrheit in Person

Im Erzählablauf des Prozesses Jesu bleibt die Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit?“ unbeantwortet im Raum stehen. Ohne Worte, zwischen den Zeilen, gibt der Evangelist allerdings zu verstehen, wie die Antwort für ihn lautet: Die Wahrheit ist ein Mensch. Sie begegnet in dem Menschen Jesus. Was ist das für eine Wahrheit? Alles Schwarz-weiß-Denken ist ihr fremd. Sie ereignet sich als Geschichte, und die Wahrheit dieser Geschichte erschließt sich dem, der sich in diese Geschichte hineinbegibt und den Weg Jesu mitgeht.

Zur Wahrheit des Menschen scheint es zu gehören, dass er ein anderer werden kann. Dreimal sagt Jesus in großer Schroffheit zu Nikodemus: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (3,3). Rein empirisch und von sich aus ist der Mensch also nicht bereits aus der Wahrheit. Wer sich aber darauf einlässt, durch die neue Geburt hindurchzugehen, der wird hineingerissen werden in eine Bewegung, in deren Verlauf er ein anderer wird, als er vorher war.

 

IV. Die Wahrheit der Unfreien

Bereits lange vor seiner Begegnung mit Pilatus hatte der johanneische Jesus seinen Gesprächspartnern verheißen: „Wenn ihr an meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen“ (8,31f). Auch hier die Vision vom Menschen, der ein anderer werden kann. Er kann frei werden. Jesu Dialogpartner sperren sich gegen diese Verheißung. Warum sollten sie frei werden müssen? Das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, dass sie jetzt Gefangene wären. Sind sie das?

Dass sie Gefangene sind, hatte Jesus ihnen zwar bereits vorher in aller Deutlichkeit gesagt. Doch sie schätzen ihre Lage so dramatisch nicht ein. Im Gegenteil. Wenn es um Freiheit geht, lassen sie sich von niemandem etwas sagen. Nicht jedenfalls, wenn sich daraus ein drastischer Bruch mit ihrer Vergangenheit ergeben soll. Stolz stellen sie Jesus ihren Lebensentwurf entgegen: den der Abrahamskindschaft, der genealogischen Abstammung. Darin gründet ihre Freiheit. Aus tiefster Überzeugung entgegnen sie ihm: „Wir sind Abrahams Kinder und nie jemandes Knecht gewesen. Wie sagst du dann: Ihr müsst frei werden?“ (8,33)

Sind wir denn unfrei?, fragen wir uns vielleicht selbst. Wir leben doch ganz gut. Ob religiös indifferent oder nicht – wir haben doch keineswegs das Gefühl, Gefangene zu sein. Wir haben Entwicklungsmöglichkeiten, individuell und gesellschaftlich, die die Menschheit nie zuvor besessen hat, Möglichkeiten, von denen in der Vergangenheit, ja in der Gegenwart nur ein paar tausend Kilometer von hier entfernt, Menschen nur träumen können! Allerdings – ist vielleicht gerade diese Ungleichheit Hinweis darauf, dass wir eben nicht in der Lage sind, friedlich und versöhnt miteinander in der Schöpfung zu leben, dass wir eben nicht frei sind?

Das zeigt sich auch in anderer Hinsicht. Sind wir frei, wenn wir uns selbst und andere unter dem Blickwinkel der Ökonomie, als Humankapital, betrachten? Sind wir frei, wenn wir uns durch unsere Leistung definieren zu müssen meinen? Wer die Frage nach der Wahrheit für unerheblich erklärt, läuft Gefahr, sich, ohne es zu merken, sogenannten Faktenwahrheiten zu unterwerfen. Die machen ihn selbst zu einer Sache, zu einem Objekt.

Dann ist es der wichtigste Zweck unseres Daseins, durch unser Kaufverhalten die Wirtschaft anzukurbeln. Wir sind wertvoll nur, wenn wir funktionieren und unsere Stärken ausspielen. Wir erscheinen als neurobiologische Wesen, deren Verhalten sich kausal erklären lässt, oder als Agglomeration von Zellen, die nach dem Tod im allgemeinen Kreislauf der Natur wieder Verwendung finden. Solchen Reduktionen sind wir ständig ausgesetzt. Sind wir davor gefeit, sie uns zu eigen zu machen und uns und andere auch so zu sehen? Wer aber sich und andere so sieht und ihnen erlaubt, ihn ebenso zu sehen, verliert seine Würde. Er wird unfrei.

Die Wahrheit steht vor Pilatus, aber der erkennt sie nicht. Wem die Frage nach der Wahrheit egal ist, das ist die erste Einsicht, der verliert den Blick für den Menschen als eines unausschöpflichen und unauslotbaren Wesens.

 

V. Wahrheit und die Mehrdimensionalität des Lebens

Jesus verheißt: „Wenn ihr an meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen“ (8,31f). Sein Wort, das ist er selbst. Er ist das Wort, das am Anfang bei Gott war. An ihm bleiben heißt, mit ihm vertraut werden. Wer an seinem Wort bleibt, der tritt in die Beziehung der Jüngerschaft ein. So entsteht Gemeinschaft und Verbundenheit in der Liebe. Wenn ich ihn liebe, erkenne ich ihn, denn wahrhaft erkennen kann ich nur, was ich liebe. Ich erkenne die Wahrheit, indem ich den Weg gehe, den er selbst geht, den Weg vom Himmlischen ins Irdische. Der Weg, den Jesus geht, und auf dem wir ihm nachfolgen sollen, ist der Weg ans Kreuz. Moment. Der Weg ans Kreuz? Das ist in der Tat eine fremde, schwer verständliche Wahrheit. Diesen Weg verknüpft Jesus jedoch mit einer großen Verheißung: Wer an ihn, den ans Kreuz Erhöhten, glaubt, in ihm sich selbst begegnet, vor diesem Bild nicht wegläuft, es nicht von sich wegschiebt, sondern sich ihm verbunden fühlt, für den wird das nicht das Ende sein. Wer glaubt, wird erfahren, dass er, der verlorene, elende und innerlich zerrissene, der selbstgerechte und schuldige Mensch – wunderbar getragen ist. Am Tiefpunkt die göttliche Nähe, im Tod die Wende zum Leben, am Punkt der Verzweiflung die Erfüllung mit dem Leben schaffenden Geist.

Jesus verheißt: Wer ihn, den ans Kreuz Erhöhten anschaut, dem wird das erfüllte, das ewige Leben zuteil. Dem wird Gott den Geist „ohne Maß“ geben (3,34). Er geht nicht zugrunde; er erfährt Verwandlung, Kraftzufuhr. Ich bin zwar ein biologisches Wesen, Fleisch, sterblich, mit einer bestimmten sozialen Herkunft und spezifischen natürlichen Gaben. Aber ich gehe in diesen Zuschreibungen nicht auf. Ich bin mehr als das, was ich selbst und andere in mir sehen, mehr als das, was Empirie, Biologie, Psychologie oder Ökonomie über mich auszusagen vermögen

Die Glaubenden erkennen in Jesus und in sich selbst mehr als nur das, was vorhanden ist. Der Mensch, die Wahrheit, ist mehrdimensional. Jesus ist der Mensch, der Teil hat an Gott und eins ist mit dem Vater. Jeder Mensch ist, wie Jesus, Fleisch und Herrlichkeit zugleich. Den Jüngern verheißt Jesus: „An jenem Tage“, an Ostern nämlich, „werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch“ (14,20). Die Menschen in Jesus. Der wiederum im Vater und in ihnen. Das ist die Wahrheit des Menschen. Jeder Mensch ist dazu bestimmt, Bild dieser mehrdimensionalen Wahrheit zu sein. An ihr teilhaben, heißt frei sein von allen Zuschreibungen und Vorurteilen.

Freiheit – das ist die große Verheißung, die Jesus seinen Gesprächspartnern gibt. Das endgültige Freiwerden liegt auch dann noch in der Zukunft, aber der erste Schritt dahin ist getan. Martin Luther beschreibt dieses neue Leben so: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden es aber. Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, aber es ist der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es reinigt sich aber alles.“6

VI. Wahrheit in versöhnter Gemeinschaft

„Was ist Wahrheit?“ ist eine moderne Frage. Pilatus stellt sie als Alibi-Frage, ratlos und gleichgültig. Das Johannesevangelium nimmt diese Frage ernst: „Was ist Wahrheit?“ Der Mensch, lautet die Antwort. Der Mensch ist zur Wahrheit bestimmt. Als solcher geht er nicht in den Zuschreibungen auf, auf die er sich selbst reduziert und auf die andere ihn reduzieren. Er ist ein potentiell mehrdimensionales Wesen. Er kann ein anderer werden. Seine höchste Bestimmung ist es, an der Wahrheit Anteil zu haben, die größer ist als er selbst.

An der mehrdimensionalen Wahrheit Anteil haben, heißt, in versöhnter Gemeinschaft zu leben. Aufgabe des Menschen ist es dabei nicht, dem immer mehr, immer höher, immer stärker, sondern der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Versöhnung nachzujagen. Das ist die Freiheit der Gotteskinder. Die Lebenshaltung, die dieser Freiheit entspricht, ist die Freude.

Von dieser Einsicht in den mehrdimensionalen Charakter der in jedem Menschen begegnenden Wahrheit her lässt sich nun aber ein Wort Jesu verstehen, das in einem multireligiösen Kontext dann ganz neu zu Gehör gebracht werden kann.

VII. Wahrheit ist unverfügbar

Lange Zeit stand Jesu Satz „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich“ (14,6) für den Absolutheitsanspruch des Christentums. Jahrhundertelang hat die Kirche dieses Wort zu Machtzwecken missbraucht: Es gibt das Licht, das sind wir – und dann ist da die Finsternis, das sind die anderen, die nicht so glauben wie wir, die Welt, die Ungläubigen, die anderen Religionen. Aus der Verheißung, an der Wahrheit teilzuhaben, hat die Kirche die Behauptung gemacht: Wir und ausschließlich wir haben die Wahrheit. Ihr ist dabei entgangen, dass die Wahrheit aufhört, Wahrheit zu sein, sobald die Kirche meinte, sie besitze sie. Es ist diese Geisteshaltung der Übergriffigkeit und Bevormundung, die viele Menschen im Zeitalter von religiös motiviertem Terror jeder Form von Religion mit Misstrauen und Abwehr begegnen lässt. Heute tritt die Kirche nicht mehr so auf. Sie hätte auch mit Recht alle Glaubwürdigkeit verloren. Nicht zuletzt vor der einzigen Autorität, die sie doch behauptet, gelten zu lassen: der Schrift. Heute weiß sie: Wir Menschen können nur Anteil haben an der Wahrheit. Die Wahrheit bleibt unverfügbar. Das liegt an ihrer mehrdimensionalen Gestalt. Sobald ich sie zu besitzen meine, wird sie eindimensional und hört auf, Wahrheit zu sein.

Ironischerweise sagt das Wort Jesu „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ genau das Gegenteil von dem, was ein sich absolut setzendes Christentum aus ihm gemacht hat. Jesus sagt nicht: das Christentum ist die einzige wahre Religion; alle anderen sind zu bekämpfen. Er sagt: In mir und meinem Weg wird der Mensch in seiner ganzen Tiefe und Mehrdimensionalität als ein auf Wahrheit hin ausgestrecktes Wesen offenbar. Ich bin der Weg, den ich selbst gehe: der Weg ins Leiden und in den Tod. Wer ihn mitgeht, wird die Wahrheit erkennen: dass er selbst mehr ist als seine Genealogie, sein Geschlecht, seine religiöse oder ethnische Herkunft, seine sexuelle Orientierung, sein Aussehen, seine Leistungsfähigkeit. Erkennt euch in mir!

Gerade in einem multireligiösen und säkularisierten Kontext bekommt das Wort von der Wahrheit einen ganz neuen, befreienden Klang. Es ist Aufgabe der Kirche, die Wahrheit, die Mensch geworden ist, auch im Dialog der Religionen und mit den säkularisierten Strukturen der Gesellschaft hochzuhalten. Das Bild vom Menschen als mehrdimensionaler Wahrheit ist dabei das Pfund, mit dem die Kirche wuchern könnte. Wo, wenn nicht hier, gibt es in unserer Gesellschaft den öffentlichen Raum, in dem diese befreiende Wahrheit erklingt? So hoch redet sonst keine Philosophie und keine Weltanschauung vom Menschen.

Die Kirche darf diese Wahrheit anderen Wahrheitsansprüchen nicht unterordnen oder gleichsetzen, denn hier geht es um etwas nicht Verhandelbares. Es ist ihre Verantwortung, diese Wahrheit auch den religiös Indifferenten und Gleichgültigen zu erschließen. Diese Wahrheit zu Gehör zu bringen, das ist, glaube ich, heute mehr denn je die Aufgabe der Kirche. Denn wer die Frage nach der Wahrheit mit Gleichgültigkeit quittiert, wird das mit dem Menschen letztlich ebenso tun.


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