Huch, ich habe meine apokalyptische Hoffnung verloren …

»Mit Impfungen zurück zur Normalität« - so stand es kürzlich auf zeit-online zu lesen. Ich bin heftig über diesen Beitrag gestolpert. Um welche Normalität ging es denn da? Und wollen wir wirklich zu dieser Normalität zurück? Zu einer Normalität, in der die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht und in der Kinder immer noch ein Armutsrisiko sind. Eine Normalität, in der die Zerstörung der Lebensgrundlagen nach wie vor subventioniert wird und wir menschliches Leiden an den Grenzen Europas (und an vielen anderen Orten der Welt) schulterzuckend hinnehmen und es Politiker:innen durchgehen lassen, wenn diese sagen: Wir können nicht allen helfen.

 

Apokalypse - das ist ein verhüllter theologischer Begriff. Wahrscheinlich verbinden die meisten Zeitgenoss:innen damit die Katastrophe, aus der die Welt und die Menschheit gerettet werden müssen. Aber eigentlich ist sie die Katastrophe, durch die die Welt und die Menschheit gerettet wird - als Ende der »Normalität«. Oder wie Walter Benjamin es formuliert: "Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Und: "Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.“ Die Apokalypse ist das Ende des Fortschritts.

 

Den Begriff »Apokalypse« zu enthüllen und die radikal hoffnungsstiftenden Momente herauszuarbeiten - das ist das Anliegen dieses Textes. Und damit werden wir uns im Forum für Gemeinschaft und Theologie in diesem Jahr intensiver beschäftigen.

Historisches:

Die Apokalyptik als Literaturgattung und als Denkungsart entsteht zu einer Zeit, in der die »Normalität« unerträglich für diejenigen war, die eben durch dieses Denken versuchten, ihr Leben zu bewältigen. In biblischen Texten findet sich der Niederschlag - prominent im Danielbuch, aber auch in anderen Texten. Die Erfahrung einer umfassenden Ungerechtigkeit und die Erfahrung, dass Menschen nicht trotz, sondern wegen ihrer Treue zu Gott und ihrem Festhalten an Gerechtigkeit leiden, erforderte eine neue Reflexion auf Gott, Welt und Leben. Konnten bis dahin Leid, Verfolgung und die Erfahrung von Ungerechtigkeit als Folge der eigenen Untreue (Tun-Ergehen-Zusammenhang) oder als Prüfung (Hiob) verstanden werden, wurden Leid und Tod nun geradezu Folgen der Treue

zu Gott. Und gab es in der Prophetie Israels die Hoffnung und Verheißung, dass sich alles zum Guten wenden werde, lebt die Apokalyptik nun von einem radikalen Abbruch. Das Alte muss vergehen, damit das Neue kommen kann. Es lässt sich auch nichts aus dem Alten ins Neue retten - außer meiner Seele.

Nicht die Erneuerung des Reiches ist das Thema, sondern der Anbruch einer Neuen Welt.

 

Im Neuen Testament findet sich mit der Offenbarung des Johannes ein apokalyptisches Buch. Es gab aber sehr viele Apokalypsen in dieser Zeit - offensichtlich wurde die Normalität von vielen als so katastrophal empfunden, dass weder aus ihr heraus noch für sie Rettung möglich schien - Rettung nicht für das vergehende Alte, sondern vielmehr in das kommende Neue.

Wesentliches Grundmotiv der Apokalyptik war dabei: Hoffnung für die, die angesichts des Gegebenen hoffnungslos waren - und die Motivation durchzuhalten. Es ist nur eine kurze Frist. Haltet durch! Lasst Euch vom Bösen nicht korrumpieren! Kooperiert nicht mit dem Antigöttlichen! Nehmt seine Zeichen nicht an und macht Euch nicht mit ihm gemein.

In der Apokalyptik gewinnen die Opfer der Zeitenläufte die Deutungshoheit über ihr Leben, ihr Leiden und über die vermeintlichen Sieger:innen der Geschichte zurück. Der Preis dafür ist hoch - die Welt gerät in einem nicht zu überbrückenden Gegensatz zu Gott. Aber dadurch öffnet sich ihr Blick über ihre Zeit hinaus und damit auch für ihre Zeit. Weil sie sich nicht mit den Gegebenheiten arrangieren müssen, müssen sie auch keine falsche Rücksicht mehr nehmen. Schonungslos können sie die Perversionen und Ungerechtigkeiten des Zeitalters formulieren und diesen die Gegenwart des Kommenden entgegenstellen.

 

Diese Vorstellungen finden sich nicht nur in der Offenbarung des Johannes. Auch bei Jesus und bei Paulus lassen sich Elemente davon aufzeigen: Die Frage nach der größeren Gerechtigkeit, die Zurückweisung staatlicher Praxis (Steuergroschen); die Frage nach Ehe und Ehelosigkeit; nach Besitz und Freiheit (Sklaverei) und der Aufhebung aller Unterscheidungskriterien (Frau/ Mann; Frei/ Sklav:in; Jüdisch/ Nichtjüdisch; …).

Neben der Apokalyptik gibt es natürlich auch andere Traditionen, die ebenfalls im Neuen Testament schon eine Rolle spielen - die im Laufe der Zeit die Oberhand gewinnen werden. Die Folgen sind gravierend. Um das begrifflich zu fassen: Aus der eschatologischen Heilsgemeinschaft der Jesus-Nachfolger:innen wird die frühbürgerliche Christenheit, die sich als Kirche organisiert. Deutlichstes Zeichen dafür sind die Pastoralbriefe; etwa 1. Timotheusbrief: "So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, …"

Kirchengeschichtlich wird sich diese Haltung durchsetzen. Und von den apokalyptischen Vorstellungen werden vor allem die Schreckensvisionen mit ihrem Drohpotential weitergegeben, während die Trost- und Hoffnungsmotive und der freie Blick auf Zeit und Gesellschaft nur noch ein Schattendasein führen. (Damit gewinnt die Kirche allerdings auch - und das halte ich für einen eminent wichtigen und evangelischen Moment - ein positives Verhältnis zur »Welt«, die eben nicht mehr in diesem unüberwindbaren Gegensatz zu Gott steht.)

Ein erstaunliches Zeugnis dieser Haltung findet sich in Tertullians Apologeticum - einer Verteidigung des Christentums gegenüber den Anklagen des Römischen Reichs aus dem Jahr 197 nach Christus. In diesem Werk widerlegt Tertullian nicht nur alle Anklagen gegenüber den Christ:innen als falsch. Er “beweist“ zugleich, dass all das, was die Heid:innen den Christ:inne vorwerfen, von diesen selbst verübt wird. In einem polemischen Feuerwerk prangert er die Ungerechtigkeiten und die Widergöttlichkeit des Heid:innentums im Römischen Reich an. Dann aber macht er überraschend deutlich, warum die Christ:innen im Eigentlichen die besseren Bürger:innen des Reiches seien - wir lügen nicht, zahlen ehrlich unsere Steuern und pflegen ein moralisches Leben in Gehorsam gegenüber staatlicher Gewalt. Und er führt einen wesentlichen Punkt auf, warum die Christ:innen um das Wohlergehen des Römischen Reiches besorgt seien: »Es gibt für uns auch eine andere, noch größere Nötigung, für die Kaiser, ja, sogar für den Bestand des Reiches überhaupt und den römischen Staat zu beten. Wir wissen nämlich,

daß die dem ganzen Erdkreis bevorstehende gewaltsame Erschütterung und das mit schrecklichen Trübsalen drohende Ende der Zeiten nur durch die dem römischen Reiche eingeräumte Frist aufgehalten wird. Daher wünschen wir es nicht zu erleben und, indem wir um Aufschub dieser Dinge beten, befördern wir die Fortdauer Roms.«

Neben der Verbürgerlichung des Christentums tritt jetzt an die Stelle der apokalyptischen Hoffnung auf das Neue Jerusalem die Angst vor der Schreckenszeit - und das in der Schreckenszeit der Martyrien, die Tertullian in seinem Buch ja beklagt. Stattdessen zeigt sich hier die unheilvolle Verbindung zwischen Kirche und Rom, die paradigmatisch für den weiteren Verlauf der abendländischen Kirche sein wird. Das Christentum bietet sich als Legitimation für das Römische Reich an, das auf Gewalt und Terror gegründet war - und vollendet wird das ganze dann bei Konstantin und seinen Nachfolgern. Seitdem führt die apokalyptische Praxis nur noch ein Schattendasein in Theologie und Kirche.

Und obwohl sowohl die mittelalterliche Kirche als auch Luther die apokalyptischen Vorstellungen sehr präsent hatten und geradezu davon besessen waren, war der Sitz im Leben der Apokalyptik verloren gegangen.

In der Neuzeit entdeckte zuerst der Pietismus innerkirchlich die Zukunft als Ort des Fortschritts. In der geschenkten Zeit könne es besser werden, und es sei Aufgabe der Christ:innen, sich für diese Zukunft einzusetzen - in Kirche und Staat und den Institutionen. Diese Vorstellungen werden vor allem in der Pädagogik fruchtbar - aber auch an vielen anderen Stellen. Interessant wäre etwa zu betrachten, wie im Zuge der Säkularisierung staatliche Institutionen zu Verwalterinnen immanenter Heilserwartungen werden.

Optimistische Erwartungen an die bessere Zukunft verbanden sich mit einer geradezu theologisch-heilsgeschichtlich aufgeladenen Anbindung an die jeweils aktuelle Gesellschaftsordnung/ Herrschaftsform und - im Protestantismus an die Nation (das ist ein Grund für die Anfälligkeit der protestantischen Kirchen für den Nationalismus). Kirche im Kaiserreich; Kirche im Dritten Reich; Kirche im Sozialismus; Kirche im Kapitalismus und der Demokratie - all das war und ist für die Kirche nicht spannungsfrei, aber doch im Großen und Ganzen problemlos möglich. Der Umsturz oder die radikale Infragestellung oder selbst der Abbruch dagegen standen und stehen unter einem permanenten Vorbehalt. Ganz besonders gilt das natürlich für eine gesellschaftliche Situation, in der Kirche im hohen Maße Nutznießerin der Verhältnisse ist.

Der Blick der Apokalyptik dagegen ist der des Abbruchs. Das Bestehende ist nicht zu retten und nicht das zu Rettende. Wie schon angedeutet, entstehen aus diesem Blick auf die Welt auch Probleme - die in dem prinzipiellen Gegensatz von Gott und Welt wurzeln. Geschichtlich zeigt sich das vor allem in den Gruppen, die apokalyptische Gedanken mit einem politischen Programm verbanden und mit Aktionen - auch gewaltsamen - den Anbruch der Heilszeit erzwingen oder herbeiführen wollten. Vor allem auch diese Bewegungen haben das Verhältnis sowohl der Katholischen als auch der Protestantischen Kirchen zur Apokalyptik bestimmt.

Gegenwärtig empfinden wir stärker die Grenzen unserer Möglichkeiten. Der Fortschritt als Ideologie hat Kratzer bekommen. Wir sehen die Folgen unserer Art zu leben und zu wirtschaften. Die Normalität, nach der wir uns zurücksehnen, ist eine verhüllte Dystopie. Und die Zukunft nicht unbedingt Ort der Erwartungen und Träume. Aus dem Spruch der vorangegangenen Generation: "Euch soll es einmal besser gehen.", wurde der Wunsch für unsere Kinder: "Hoffentlich wird es Euch nicht viel schlechter gehen." Das Ende der Zukunft ist eine realistische Option für eine Welt, die zurück will zu ihrer Normalität.

Ist das die Zeit der Apokalyptik? Nicht die der Schreckensvisionen, sondern die der Erkenntnis, dass ein radikaler Abbruch und Umsturz eine Verheißung trägt? Könnten wir dadurch frei werden für die apokalyptische Dimension unserer Gegenwart, um zu einer veränderten Praxis zu kommen? Apokalyptik spricht nicht vom Ende, sondern vom Anfang. Sie droht nicht mit dem, was ist. Sie ermuntert zum dem, was kommen soll.

Es ist Zeit, der Apokalyptik in Theologie und kirchlicher Praxis einen neuen Raum zu geben.

 

Paul Martin

Kommentare: 45
  • #45

    Juliane Keitel (Samstag, 06 März 2021 14:30)

    Danke! Ich war kürzlich über genau denselben Beitrag gestolpert.
    2013 gesendet, und trotzdem können an vielen Stellen top-aktuelle Bezüge hergestellt werden, als wäre er ins Jahr 2021 gesprochen. Das Bild vom Advent ist wunderbar, obwohl es eine Zumutung bleibt, es mitten in den Karfreitagen unserer Tage ernstzunehmen.
    Unter diesem Link hier findet man den Beitrag, glaube ich, etwas leichter:
    https://www.deutschlandfunk.de/philosophie-wir-leben-noch-im-advent.1184.de.html?dram:article_id=272613&dram:audio_id=242879&dram:play=1

  • #44

    Paul F. Martin (Samstag, 06 März 2021 08:41)

    Hier noch ein Beitrag des DLF zu Jacob Taubes und dem apokalyptischen Denken:
    https://www.deutschlandfunk.de/philosophie-wir-leben-noch-im-advent.1184.de.html

  • #43

    Paul F. Martin (Mittwoch, 03 März 2021 14:43)

    Und noch eine wichtige Korrektur:

    WIR BEGINNEN 19:30 Uhr Mit DEM VORTRAG!

  • #42

    Paul F. Martin (Mittwoch, 03 März 2021 11:30)

    Und dieser Link führt direkt zur Registrierung: https://us02web.zoom.us/meeting/register/tZcqdO2urDMpE9OZxFObg4JO3LcsoWUXd0H9

    Gerne auch zum Weitergeben.

  • #41

    Paul F. Martin (Mittwoch, 03 März 2021 06:02)

    Liebe Mitdiskutant*innen, nachdem wir uns hier schon ausgetauscht haben, weise ich noch einmal auf den Vortrag mit Professor Frenschkowski hin. Am 10. März um 19:00 Uhr treffen wir uns virtuell und können dann sicher noch einige Fragen und Thesen diskutieren.
    Für diesen Vortrag ist eine Anmeldung notwendig - auf der Homepage https://www.frei-und-fromm.de unter Einführung ins Jahresthema. Der Vortrag eignet sich auch als virtueller Gemeindeabend. Die Einladung kann also gerne auch weitergegeben werden.

  • #40

    Juliane Keitel (Freitag, 26 Februar 2021 12:46)

    Nachtrag zu #37, in dem Herr Flessing schreibt: "Sie sehen hier und da Ansätze eines "anders leben wollens". Ich sehe sie auch. Aber, wie sich aus solchen Ansätzen etwas ergeben kann, was mehr ist, als eine Spur, eine schwache Spur, ahne ich momentan nicht."

    Warum ein ABER? Die Ansätze sind da, mitten im apokalyptsichen Treiben. Ein anderes Leben, Lieben, Arbeiten hat in sich seinen Wert und - ganz situativ - sogar eine zumeist positive Praxis. Das ist ja genau das, worüber wir reden: Hoffnung zu haben, obwohl es nicht mehr als eine Spur ist, aber trotzdem - eingedenk des (eigenen) möglichen, wahrscheinlichen Scheiterns - auf diesem Weg weiterzumachen, und nicht auf dem Weg der 'Normalität', denn dieser IST die Katastrophe.

  • #39

    Gert Flessing (Mittwoch, 24 Februar 2021 22:29)

    Eigentlich wollte ich mich heute und um diese Zeit nicht mehr zu Wort melden. Gut, das Wort "tragen" ist, im Blick auf die anderen Assoziationen, falsch gewählt.
    Aber zu den Kirchenaustritten bei unseren katholischen Geschwistern. Ich denke, das wir es hier, ganz wesentlich mit einer Reaktion auf die Vorfälle sexueller und anderer Gewalt innerhalb der katholischen Kirche zu tun haben. Auch in anderen Diskussionsrunden sehe ich, dass hier hart mit der katholischen Kirche ins Gericht gegangen wird.
    Aber auch das Zölibat und die Verweigerung Frauen das Priesteramt zu übertragen, spielen, vor allem im deutschen Raum, wie ich spüre, eine nicht unwichtige Rolle.
    Erstaunlicher Weise wird der Papst an der Stelle noch recht positiv betrachtet. Obwohl er, wenn man sich das Gesamtbild anschaut, nicht viel weniger konservativ zu sein scheint, als es Ratzinger war.
    Aber vielleicht hat jemand ein anderes Bild?
    Gert Flessing

  • #38

    Juliane Keitel (Mittwoch, 24 Februar 2021 11:44)

    Nochmal: ich setze an Gott* gelegentlich gerne einen Stern als Kennzeichnung von Diversität, auch um aktuellen Initiativen vornehmlich Jugendlicher (z.B. https://www.ksj.de/i/gott-kampagne) meine Solidarität anzuzeigen, aber ich wechsele da auch die Kennzeichnungen und bin am Nachdenken wegen der Assoziationen, die dieser Stern gleichzeitig mit sich führt/führen kann. Mich störte Ihre Formulierung/Ihr Postulat, der Gott unserer Zeit würde einen Stern TRAGEN. Das ist in meinen Augen auf mehreren Ebenen apokalyptisch-falsch.
    Im aktuellen Wort zum Sonntag benutzt der katholische Pfarrer fleißig eine gendergerechte Sprache, bleibt aber inhaltlich in dem stecken, was ist. Dazu gehört es leider auch, Menschen, die Kritik an apokalyptischen Erscheinungen unserer Zeit üben, wiederum dumm zu machen, zu beschwichtigen, zum Duchhalten zu bewegen. Die nun zu beobachtenden massenhaften Austritte aus der katholischen Kirche könnten dagegen apokalyptische Hoffnung aufscheinen lassen... Oder, was denken die anderen?

  • #37

    Gert Flessing (Mittwoch, 24 Februar 2021 10:46)

    Danke für den Hinweis. Ja, auch die Kommentare waren recht erhellend. Nein, das muss man nicht tun. Wenn nur ein jüdischer Mensch an jene schlimme Zeit erinnert wird, sollte man sich andere Möglichkeiten, einer inkludierenden Sprache, auch im Bereich der Schrift, überlegen.
    Mit ihrem Hinweis auf das Wort zum Sonntag dürften Sie Recht haben, wenngleich ich es nicht gehört habe. In meiner Jugend habe ich es oft gehört, als noch ein Pfarrer Sommerauer es manchmal sprach, der ein nettes Heft, "Handwerk der Predigt" rausgebracht hatte.
    Nun, jedenfalls klingen Ihre Überlegungen für mich zu jenem Sternchen, jetzt nicht mehr verschroben, sondern schlüssig.
    Aber, ehrlich gesagt, bin ich, bei alle dem, auch noch nicht in den Bereich einer "apokalyptischen Hoffnung" vorgedrungen.
    Sie sehen hier und da Ansätze eines "anders leben wollens". Ich sehe sie auch. Aber, wie sich aus solchen Ansätzen etwas ergeben kann, was mehr ist, als eine Spur, eine schwache Spur, ahne ich momentan nicht.
    Gert Flessing

  • #36

    Juliane Keitel (Dienstag, 23 Februar 2021 15:23)

    Lieber Herr Flessing, Sie hatten in #30 geschrieben "Der Gott unserer Zeit trägt ein *." Das ist ein Postulat, gegen das ich inhaltlich und formal (meinen) Einspruch geltend gemacht hatte. Ich hatte unter anderem versucht, mit dem Beispiel vom Wort zum Sonntag zu zeigen, wie Menschen mithilfe gegenderter Sprache doch wieder nur wiederholen und re-formulieren, was Teil unserer apokalyptischen Wirklichkeit ist, ohne in apokalyptische Hoffnung vorzudringen - im Gegenteil.
    Darüber hinaus ist und bleibt es meiner Meinung nach eine dringende Aufgabe, darüber nachzudenken, wie inkludierend und diskriminierungsarm gesprochen und geschrieben werden könne; hier vielleicht mal ein Ausschnitt aus einer interessanten Diskussion: https://thea-blog.de/warum-ich-menschen-nie-mit-einem-genderstern-kennzeichnen-werde/. Auch die Kommentare dazu zeigen, dass es nicht leicht ist, immer eindeutig und klar und 'gut' zu agieren. Ich selber benutze den Genderstern ganz gern, aber ich muss auch zur Kenntnis nehmen, wenn es Menschen jüdischen Glaubens an die Geschichte des Holocausts erinnert, und dann entscheiden, ob ich weiter damit agieren möchte oder nicht. Auf jeden Fall würde ich es nie so formulieren, dass Gott einen Stern "trägt", da ist mir sprachlich eine unbedachte Nähe zu eben jener Nazizeit gegeben. In meinem beruflichen Feld bin ich beinahe wöchentlich mit antisemitischen (christlichen) Gedanken konfrontiert, die harmlos und unbedacht daherkommen, und für mich war eine Grenze in Ihrer Formulierung erreicht - für Sie dagegen, lieber Herr Flessing, klingt es halt nur verschroben...

    Was Paul Schneider anbelangt, da haben Sie völlig Recht. Wir wissen es nicht. Danke, dass Sie das noch einmal so deutlich gesagt haben. Ich kann mich nur vor seinen Taten verneigen und darum bitten, er möge geschaut haben, was er glaubte.

  • #35

    Gert Flessing (Dienstag, 23 Februar 2021 14:14)

    Hm, bemerkenswert. Da muss man wirklich mit einem Bogen um die Ecke denken, wenn man ein Gendersternchen flugs in einen der unsäglichen gelben Sterne des Nazireiches verwandelt. Sie mögen verzeihen, wenn ich das für ein wenig verschroben halte.
    Gott ist weder mit einem Sternchen, noch mit einem weißen Bart "fest zu machen". Wer je, wenigstens ein wenig begriffen hat, warum wir uns kein Bildnis machen sollen, ahnt es zumindest.
    Was Paul Schneider hoffte, weiß ich wohl so wenig, wie Sie. Ich gehe auch nicht davon aus, das es ihm um seine eigene Person ging. Es ging ihm immer wohl um jene, denen er, aus seinem Leid, Mut machen wollte und wohl auch konnte.
    Chiara Lubich schrieb einmal, das wir Jesus im leidenden und sterbenden Herrn am Kreuz in besonderer Weise begegnen.
    Nun, auch wir werden sterben. Wohl eher nicht im Folterkeller einer unmenschlichen Diktatur. Doch welches Leiden uns beschieden sein wird, wissen wir nicht. Möglichkeiten gibt es zur Genüge. Welche Hoffnung werden wir haben - wenn wir denn eine haben?
    Ein Freund von mir hat, in dem Ruhesitz, den er sich mit anderen ehemaligen Priestern teilte, einen Professor der Theologie, einen der großen Denker über Gott und uns erlebt, der in seiner Demenz Gott verfluchte und darunter litt, wenn er einen lichten Moment hatte.
    Warum ist das Bild des Gefäßes so passiv? Ein Gefäß dient dem, der es nimmt, um etwas zu schöpfen. Das Gefäß gibt das, was hinein geschöpft wurde, weiter. Das kann neues Denken sein. Es kann aber auch der Aufruf zum Mut in bitterer Zeit sein oder zur Besinnung...
    Zum anderen sprach ich ja bewusst von mir. Das Bild muss niemandem sonst etwas sagen und niemand muss sich darin wiederfinden.
    Gert Flessing

  • #34

    Juliane Keitel (Dienstag, 23 Februar 2021 02:11)

    Zum 'Tragen' eines Sterns wurden Millionen Menschen einst gezwungen - dieses Bild wird sprachlich reproduziert, wenn formuliert wird, dass "der Gott unserer Zeiten ein * trägt". Das habe ich gemeint, abgesehen davon, dass das in meinen Augen auch nicht stimmt. Ja, es gibt Menschen, denen es wichtig ist, über eine sprachliche Konstruktion oder einen Zeichen-Zusatz am Wort "Gott" deutlich zu machen, dass es um etwas anderes als um den weißen alten Mann mit dem Bart geht. Aber dass es sich dabei um einen dominierenden 'Zeitgeist' handeln würde, habe ich so noch nicht beobachten können. Das kann ja auch kein Ziel sein.

    Ob Paul Schneider im KZ Buchenwald deswegen so handelte, weil seine Hoffnung über das Irdische hinausging und es dann auch sowas wie 'Lohn' oder einen "guten Ausgang" geben würde, eine Art Äquivalent zum irdischen Leben, wage ich zu bezweifeln. Ihm ging es sicher nicht um sich selbst und um sein Seelenheil. Man muss sich das einmal vorstellen: anderen aus dem Bunker Mut zuzuschreien und laut auszusprechen, was gerade passiert, und zu wissen, im nächsten Moment dafür brutal zusammengschlagen zu werden... der Sinn für ein solches Handeln kann nur in der Situation selbst liegen, in der Gewissheit, dass es einen unbeschreiblichen, aber tiefen, universellen Sinn hat, genau jetzt so zu handeln. Und gleichzeitig dem "Eli, Eli lama asabthani" realistisch und tief ins Auge zu schauen.

    Ich glaube nicht, dass wir 'nur' "sein Gefäß" sind. Diese Vorstellung landet in Passivität. Sind wir Gottes Ebenbild, sind wir auch zur Schöpfung befähigt, d.h. zum (Neu-)Schöpfen, zum Neu-Denken.

  • #33

    Gert Flessing (Montag, 22 Februar 2021 19:52)

    Da ich selbst denke und meine Gedanken ausformuliere, weiß ich nicht, was meine "Satzkonstruktion unmöglich macht". Auch weiß ich sehr wohl, das Gott keinerlei Sternchen braucht. Er steht über irgendwelchen geschlechtlichen Mutmaßungen und "tröstet, wie eine Mutter tröstet", wie man lesen kann.
    Ob es meine (ja, ich meine mich) Aufgabe ist, Menschen Hoffnung zu geben? Natürlich. Da ich dazu berufen bin, Menschen Gottes Wort nahe zu bringen, das Evangelium zu verkünden, gehört das dazu. Evangelium heißt doch nicht umsonst "gute Nachricht".
    Ich halte Menschen, wie Paul Schneider oder auch die Geschwister Sophie und Hans Scholl, deren Ermordung uns dieser Tage in Erinnerung tritt, für Ausnahmemenschen. Dazu kommt aber auch der Gedanke, das ein Pfarrer, wie Paul Schneider, seinen Weg wohl gehen konnte, weil er eine Hoffnung hatte, die über dieses Dasein hinaus reichte. Das "etwas gut ausgeht" heißt ja nicht unbedingt, das man überlebt.
    Wie ich in #30 schrieb, bin ich davon überzeugt, das Gott mir nicht fern ist. Das es dennoch eine Distanz gibt, will ich nicht bestreiten. Ich bin ja nur "sein Gefäß". Er ist Schöpfer, ich Geschöpf. Natürlich habe ich dennoch mit dem, was ich sage und schreibe, etwas zu tun, denn so, wie Gott einen Anspruch an andere hat, hat er ihn auch an mich. Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Liebe - all das ist nichts, was ich nicht auch, in meinem Leben, sichtbar machen soll.
    Wie es mir gelingt, steht auf einem anderen Blatt.
    Gert Flessing

  • #32

    Juliane Keitel (Sonntag, 21 Februar 2021 02:22)

    Habt ihr heute (gestern, 20.02.) zufällig das Wort zum Sonntag gesehen (https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/wort-zum-sonntag/videos/spricht-pfarrer-wolfgang-beck-hildesheim-video-160.html)? Ein Beispiel dafür, dass ein gesprochener Gender-Gap nichts zu bedeuten hat. Hört man genauer hin, dann ist das, was unter modern gegenderter Sprache inhaltlich gesagt wird, eine Frechheit. Es geht letztlich um jenes 'Durchhalten' i.S.v. Gehorsam und Treu-Sein, hier gegenüber der (katholischen) Kirche, und diesmal ist sogar "Stören" ausdrücklich 'erlaubt'. Wie perfide. Eine einzige Erziehungspredigt mit sanftmüfiger Belehrung, um ein schlechtes Gewissen hervorzurufen, und mit halbherziger Selbstkasteiung als Anbiederung an die Kritiker*innen. Als hätte es nie eine Religionskritik gegeben. Denn dass einlullendes, frommes, moralisierendes Reden als Opium (oder meinetwegen Wodkafusel) kritisiert wurde, ist doch mehr als einleuchtend.
    Insofern, lieber Herr Flessing (#30): "Der Gott unserer Zeit" trägt selbstverständlich keinen *. Ihre Formulierung hat zum einen eine problematische historische Parallele, die diese Satzkonstruktion eigentlich unmöglich macht. Zum anderen fragen Sie, ob und wem "wir" damit Hoffnung geben. Ich frage zurück: Hat Sie denn jemand gefragt, ob er*sie Hoffnung von Ihnen durch die Verwendung des Gendersterna oder andere Formen der Kennzeichnung von Diversität haben möchte? Oder: Sollten wir solche Formen (nur) dann verwenden, wenn wir danach gefragt werden? Oder: warum denken Sie, dass Sie (oder wir als Christ:innen) überhaupt jemandem Hoffnung geben müssten? In Bezug auf die letzte Frage glaube ich, dass es vor allem dieser erzieherische (Un-)Geist ist, von dem eine Trennung, Ablösung, mit dem ein Bruch vonöten ist. Er hat wenig Gutes gebracht, und ich sehe auch nicht, dass daraus Gutes erwachsen würde.
    Beim Beispiel von Paul Martin, in dem es um ein anderes Aushalten geht als um eines, für das ein frommer Lohn erwartet würde (#31), fühlte mich auch erinnert an einen bekannten Spruch von Vaclav Havel (1936-2011): "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht." Ich finde, das bringt apokalyptische Hoffnung auf den Punkt.

  • #31

    Paul F. Martin (Freitag, 19 Februar 2021 14:40)

    Herr Flessing, ich fürchte, Sie machen falsche Alternativen aus. Es geht nicht darum, dass belohnt wird, wer durchhält. Es geht darum durchzuhalten - auch, wenn es aussichtslos ist. Das ist die Kraft, die etwa Paul Schneider hatte. Die Nazis hatten ihm angeboten freizukommen, wenn er Schweigen gelobe. Seine Antwort kennen Sie wahrscheinlich. Würden Sie das als wodkafusslig bezeichnen?
    Und es geht nicht darum, welchen Gott wir verkündigen. Das ist ja die Kritik, die Frau Keitel Ihnen immer wieder vorhält - als sei da eine Distanz und Sie nur Verkünder einer Wahrheit, mit der Sie nichts zu tun haben. Die Frage ist, wie wir unseren Glauben leben und bewähren - mit all den Erfahrungen. Und welche Traditionen uns dabei helfen können. Diese aber nicht alternativ, sondern situativ betrachtet.

  • #30

    Gert Flessing (Freitag, 19 Februar 2021 11:57)

    Ich knabbere dran rum, an dieser Apokalyptik Geschichte. Zum einen, weil mir dieses Gebiet recht fremd ist. Zum anderen, weil ich, nachdem ich mich nun mit verschiedenen Offenbarungen befasst habe, das Gefühl nicht weicht, dass genau hier der Grund ist, warum Lenin Religion als "Wodkafusel" bezeichnet hat. Es geht darum, das derjenige, der aushält, am Ende belohnt wird.
    Gleichzeitig wird deutlich, das Menschen in einer, nur schwer auszuhaltenden, Situation leben müssen. Ihr Leid ist der Boden, auf dem Apokalyptik gedeiht.
    Natürlich bin ich, in meinem Amt der Kirche, dazu angehalten, Menschen Hilfestellungen für ihr Leben zu geben.
    Dabei weiß ich nicht oft, was richtig und was falsch ist. Als Seelsorger ist mir deutlich, das ich, mit dem Menschen, der sich und seine "Apokalypse" mir anvertraut, gemeinsam überlegen muss, was passiert ist und was getan werden kann.
    Wenn es im zwischenmenschlichen Bereich, mit all seinen Unwägbarkeiten, schon schwer ist, wie schwer ist es dann im Bereich der gesellschaftlichen Probleme.
    Welchen Gott verkündigen wir? Der Gott unserer Zeit trägt ein *. Daran ist nichts falsch. Geben wir Hoffnung? Welche Hoffnung und wem?
    Aber haben wir selbst denn eine Hoffnung, die sich mit Gott, mit Jesus, verbindet? Wenn ich "wir" schreibe, dann meine ich nicht mich. Mir selbst ist Gott nie fern. Aber wie steht es um die Kirche, die jene, die hier schreiben, doch irgendwie repräsentieren?
    Könnte es sein, das wir auch ein Problem zu bedenken haben, das Kirche allgemein betrifft.
    Ich sehe das, was wir als Kirche vorfinden und in das, zumindest ich und meine Generation, hinein gewachsen ist, als grundsätzlich fragwürdig, also der Nachfrage würdig, an.
    Gert Flessing

  • #29

    Juliane Keitel (Dienstag, 16 Februar 2021 00:02)

    Ein paar Gedanken zum Theorie-Praxis-Problem: Ich finde es gut, 'Praxis' erstmal beiseite zu lassen. Es muss Zeit geben zum Diskutieren. Letztlich ist aber auch das eine Praxis, weil wir unsere Wirklichkeit zuerst über das Handeln in unserer Sprache verändern.
    Immerzu gleich im Konkreten handeln oder etwas verändern zu wollen und zu müssen, kann zum einen überfordern, und zum anderen dazu führen, dass wir ohne gründliche theoretische (oder in diesem Fall: theologische) Basis einfach losstolpern und doch wieder nur das Gleiche, 'Altbewährte' tun.
    Aus Berufen, die mit Menschen arbeiten, ist das bekannt: bspw. Ärztinnen, Lehrer'innen, Pfarrer'innen, immerzu wird von ihnen verlangt, schnell eine Lösung für ein (fremdes) Problem zu finden. Das versetzt die einen in die Position der Hilflosen, deren Hilflosigkeit im ungünstigen Fall gesteigert wird. Die Helfenden dagegen verführt es, jene Hybris einzunehmen, die so oft in diesen Berufen beobachtet werden kann, nämlich immer gleich zu sagen und zu wissen, wo es langgehen soll, für andere zu entscheiden, was getan werden muss, was richtig und was falsch ist, anstatt gemeinsam zu überlegen, was gut sein könnte, sich erstmal auf verschiedene Theorien, Gedanken, Perspektiven einzulassen, sie zu Ende zu denken, zu fragen, zu ringen.
    Das scheint mir ein grundsätzliches Problem auch 'der Kirche' zu sein. Zu oft gibt es da solche nichtssagenden Blasen wie "Wir können etwas bewegen, etwas ändern. Gott möchte, das wir tätig sind. Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Raum schaffen in den Herzen für Menschen in Not." (#21). Das ist ja nicht grundsätzlich 'falsch', aber es ist zum einen banal und unkonkret, und zum anderen ist es übergriffig formuliert, denn es spielt mit einem Herrschaftswissen, nämlich zu wissen, was Gott* "möchte" für alle und von allen. Darüber aber sollten wir erst einmal gemeinsam nachdenken, und zwar ganz konkret! Sowas kann meines Erachtens nur als Frage oder im Konjunktiv formuliert werden. Ein Postulieren, in dieser Form, macht Zuhörende eher unmündig. Warum verkündigen wir einen Gott*, der dieses oder jenes universal von mir (ein-)fordert, anstatt eine, bei der ich eventuell die ein oder andere Unterstützung für ein (barmherziges) Tätig-Sein in dieser Welt finde? In solcher Überforderung und Unmündigkeit gleichermaßen kann ich nicht atmen. Auch wenn ich persönlich überzeugt bin, dass es Dinge gibt, die universelle Gültigkeit und alternativlose Imperative besitzen, erwarte ich vom kirchlichen Reden, dass es nicht einlullend und unkonkret, nicht übergriffig und postulierend ist, sondern den Diskurs öffnet.
    Auch dieser Satz beinhaltet so eine typisch kirchlich-christliche Floskel: "Wir haben das getan, weil wir dem Wort treu sein wollten." (#12) Sie hatten, lieber Herr Flessing, von Menschen berichtet, die Hilfe nach Rumänen gebracht haben. Um nicht missverstanden zu werden: Das ist eine gute Sache, und ich möchte den Einsatz derjenigen, die da tätig waren, niemals kleinreden. Die (theoretische, theologische) Einordnung ist meiner Meinung nach jedoch grundfalsch bzw. hat Konsequenzen, die ich nicht gut finden kann, denn: Wenn wir nur einem "Wort treu" sein wollen, verlieren wir den Menschen. Muss es nicht heißen "Wir haben das getan, weil wir den Menschen in Rumänien 'treu' sein wollten bzw. uns ihnen und ihrer Not verpflichtet fühlten"? Es ist doch alles nichtig, wenn der Mensch nicht am Beginn steht, oder? Darüber sollten wir meiner Meinung nach diskutieren, schonungslos mit uns selbst und demzufolge auch voller apokalyptischer Hoffnung.

  • #28

    Paul F. Martin (Montag, 15 Februar 2021 13:52)

    Es ist Ihnen aber schon aufgefallen, dass es 4 Evangelien gibt? ;) Und verschiedene Konfessionen? Und in den Konfessionen verschiedene Strömungen?
    Natürlich können Sie sich Ihre Tradition aussuchen. Und in einem Leben können sich Sichtweisen fundamental verändern - auf Gott und die Welt. Gerade, wenn wir Gott ernst nehmen - als den mitgehenden Gott, wie sie in der Bibel beschrieben wird. Sonst würden wir ja immer noch diese patriarchale Gestalt verehren, die in biblischen Texten verkündet wird - neben anderen.
    Um es noch einmal zu verdeutlichen, worum es geht: Wir wollen auf Impulse der Traditionen aufmerksam machen, um eigene Sichtweisen zu hinterfragen. Es geht nicht darum, unmittelbare Handlungsanleitungen daraus abzuleiten.

  • #27

    Gert Flessing (Sonntag, 14 Februar 2021 20:14)

    Nun, Herr Martin, ich denke nicht, das man sich die "Traditionen", denen man folgen möchte, wirklich aussuchen kann. Jedenfalls nicht, wenn man Gott und seinen Anspruch an uns, ernst nehmen möchte.
    Für mich steht die Frage im Raum, warum Sie sich an "Militanz" fest beißen, etwas, was mir wirklich nicht wichtig ist, weil es ja, im Grunde um die Frage geht, wie wir mit #23 "Eine Freundin sagte neulich: "Wahnsinn: Wir stehen vor einem Abgrund und diskutieren."" umgehen können.
    Das Thema Apokalyptik entspringt doch nicht einer irrwitzigen Idee eines Theoretikers, sondern, ganz nüchtern betrachtet, einem Gedankenstrom unserer Tage, der von vielen gespeist wird.
    Wie gehen wir darauf ein und was haben wir den Menschen anzubieten?
    Ist es mehr, als die Schrift an der Wand, die uns verwirft?
    Zu meinem Bekanntenkreis gehören, nach den Jahren des Dienstes, Landwirte. Diejenigen, die ich kenne, möchten eine neue Art der Landwirtschaft. Gesünder für Feld, Wiese, Tier. Leicht gemacht wird es ihnen nicht, "anders" zu wirtschaften. Teilweise sind es Familienbetriebe, in denen drei Generationen zusammenleben und zusammen arbeiten. Das Dorf ist nicht so konservativ, wie mancher denkt.
    Eine junge Frau aus einer dieser Familien, ist nach Tansania gegangen, um genau das zu tun - Menschen dort zu helfen, Lebensmöglichkeiten zu entdecken, sich neu zu "erfinden". Sie fühlte sich von Gott dazu berufen. Sie wollte Hoffnung bringen. Für mich ist sie ein Beispiel dafür, was sein kann. Schließlich hatte ich das Vergnügen, ihren Mann kennen zu lernen, den sie dort unten gefunden hat. Inzwischen haben sie Kinder. Auch das ist etwas, was hoffnungsvoll stimmt, denn damit ist diese junge Frau nicht nur dort unten hin gegangen, um zu helfen, was man ja durchaus als "typisch weiße Attitüde" auslegen könnte, sondern hat dort Wurzeln geschlagen und ein Band zwischen dort und hier geknüpft, in das die Kirchgemeinde auch eingebunden ist.
    Ja, der Abgrund ist da und die Zeit drängt. Aber es reicht nicht, das immer wieder zu sagen. Die Menschen möchten wissen, was wir noch tun können, denn sie möchten nicht, wie Lemminge, hinabstürzen müssen.
    Apokalyptik, nachdenken über das, was damit zusammenhängt, hat, für mich, nur dann einen Sinn, wenn daraus Impulse entstehen, die den Menschen, die uns, in den Gemeinden, gegenüber sitzen oder stehen, Hoffnung und einen Weg zeigen können.
    Gert Flessing

  • #26

    Paul F. Martin (Sonntag, 14 Februar 2021 16:20)

    Ich kann Ihnen jetzt nicht ganz folgen. Womit wollen Sie mich nicht so leicht davonkommen lassen? Mit etwas, was ich in diesem Kontext gar nicht gewollt habe? Oder womit?

    Zum Thema Militanz - und das nur kurz, weil es mir hier gar nicht darum geht: Meine Präferenz ist "Keine Gewalt!" - aber das gilt für alle. Und da muss ich feststellen, dass Gewalt immer schon stattfindet. Ist es Ihrer Meinung nach Aufgabe der Kirche, die zu Gewaltverzicht aufzufordern, die Gewalt erleiden oder sich mit denen solidarisieren, die Opfer von Gewalt werden? Oder vielleicht doch, denen in den Weg zu treten, die Gewalt ausüben.
    Und schön, dass Sie auch vegan können. Es ist immer schön, die Wahl zu haben. Die Schweine haben diese Wahl genauso wenig wie all die anderen Kreaturen, deren bestialische Leiden dafür sorgen, dass wir es uns so gut gehen lassen können. Aber auch hier steht die Militanz nach der Gewalt - ist Reaktion. Ihre Ablehnung wäre um einiges glaubhafter, wenn Ihre Kritik genauso die Seite trifft, die die Gewaltspirale in gang setzt.
    Aber wie gesagt - das ist hier nicht der Ort für dieses Thema. Dafür findet sich ja vielleicht ein anderer.

  • #25

    Gert Flessing (Sonntag, 14 Februar 2021 15:20)

    Lieber Herr Martin, so leicht kommen Sie mir nicht davon. Alles nur Theorie?
    Ich bin Praktiker. Heute am Vormittag stand ich vorn in einer eiskalten Kirche und die erlaubte Anzahl Menschen schaute mich an. Sie hatten ihre (frommen?) Erwartungen.
    Predigttext: Jesaja 58, 1ff.
    Da redet einer nicht von frommer Begeisterung, sondern von denen, die sich vorn dran fühlen und doch von Gott gesagt bekommen, dass sie es bei ihm nicht sind.
    Dann spricht der Text von Gottes Erwartungen (damals, wie heute) und führt das an, was ich eben auch bei Frau Keitel und ihren Gedanken, wie verschiedene Gruppen das "Althergebrachte" verändern (wollen), finde. Selbst wenn sie es nun, in # 22 anders gemeint haben will, als ich es verstanden habe.
    Natürlich müssen wir anerkennen, das wir von Gott sehr eindeutig in Frage gestellt werden. Wir müssen es, wenn wir ihn denn ernst nehmen, in seinem Anspruch an uns und unser Leben.
    Aus diesem Grund habe ich ja auch in #21 auf das, was wir unseren Politikerinnen und Politikern zu sagen haben, hingewiesen.
    Ob wir, als Kirche, hier immer konsequent handeln, ist die Frage. Aber Sie, Herr Martin, weisen ja auch die unterschiedlichen Traditionen des Denkens, hin.
    Es geht doch auch nicht darum, "vorn am Tisch des himmlischen Mahles zu sitzen". Das bestimmt eh ein ganz anderer.
    Nur am Rande: Als Mensch, der sich lange auch und sehr gezielt, mit militärischen und ähnlichen Dingen befasst hat und weiß, wie Militanz wirkt, habe ich für keinerlei militante Menschen viel übrig. (Noch eine Anmerkung: Ein Mensch, der beim Militär ist, muss nicht militant sein.) Und - Ja, ich kann auch vegan. - Wenn mir der Sinn danach steht.
    Gert Flessing

  • #24

    Paul F. Martin (Sonntag, 14 Februar 2021 10:29)

    Herr Flessing, nur damit wir uns nicht missverstehen. Ich habe von der Ambivalenz des apokalyptischen Denkens geschrieben und darauf hingewiesen. So dachten resp. schrieben Apokalyptiker:innen. Auch Jesus übrigens.
    Und ich habe versucht deutlich zu machen, dass es auch andere Traditionen gab.
    Entscheidend ist, bestimmte Impulse des Apokalyptischen nicht aus unserer Wohlstandsfrömmigkeit auszuschließen und das Urteil über uns anzuerkennen. Wir sind die, die zulassen, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil "christliche" Politiker:innen ihnen jede Hilfe verweigern. Und dann wollen wir auch noch am Tisch des himmlischen Mahles ganz vorne sitzen?
    Es geht - und auch das habe ich versucht deutlich zu machen - nicht um eine apokalyptische Praxis, vielmehr um eine neue und andere Perspektive - auf uns, unsere Welt und die, die darin ewig zu Opfern gemacht werden. Auf welcher Seite sitzen oder stehen wir? Genau das schließt uns ein oder grenzt uns aus. Davon redet die Apokalypse. Das muss Ihnen nicht gefallen. Dann können Sie gerne einer andere Tradition folgen. Bestimmten Fragen entkommen Sie damit trotzdem nicht.
    Und nochmal - es geht nicht um eine Praxis!

    Für militante Veganer:innen habe ich übrigens gewisse Sympathien.

  • #23

    Anne Veit (Sonntag, 14 Februar 2021 08:55)

    Es ist eben tatsächlich knifflig mit der Hoffnung. Das ist zweischneidig: Hoffnung verhindert, dass ich aufgebe. Hoffnung verhindert, dass ich wirklich radikal handle. Insofern ist "apokalyptische Hoffnung" etwas, das ich gern können würde. Das wäre ein Hoffnung, die die Hände frei hat, weil sie nichts vom Bestehenden retten und festhalten müsste.
    Das ist ja jetzt hier ein Jahresthema, das kann ja noch wirken. Aber bisher ist es für mich noch nicht viel mehr als ein spannender Denkansatz, der auf innere Resonanz stößt. Ich finde Herrn Flessings Frage, wie und ob daraus denn Handeln werden könnte/sollte, durchaus berechtigt. Noch bin ich da nicht. An diesem Hoffen auf Wachsen, Fließen, Einwurzeln (Andreas Kastl #3) zweifle ich aber gerade sehr. Alles hat seine Zeit - es gibt auch die Zeit auszureißen, einzureißen, wegzuwerfen.

    Wir haben letztes Jahr einen Forumstag gemacht, an dem wir versucht haben, Hoffnung auf Entwicklungen, die möglich wären, die wachsen könnten, zu entwerfen und tragfähig zu machen - gar nicht apokalyptisch. Ich beobachte durchaus, dass viele Menschen (sowohl durch apokalyptische Texte als auch) durch die angstmachenden Fakten zum Klimawandel nicht ansprechbar sind. Es gibt viele Auswege: einfach nicht wahrnehmen und leugnen zum Beispiel. Hoffnung haben, dass noch irgendein schlauer Mensch in irgendeinem Labor die weltbewegende Erfindung macht, die alles verändert, ist eine andere.

    F4F bewegt viel, aber nicht genug. Ich habe den Eindruck, sie versuchen es auf einem "apokalyptischen Weg". Der Forumtag im letzten Jahr war ein Versuch, durch Hoffnung ins Handeln zu kommen. Im Nachhinein denke ich: vielleicht noch nicht konsequent genug, was den ersten Schritt angeht, nämlich das eindeutige Verabschieden des Gedankens, das ginge ohne radikalen Umbruch und ohne Schmerz.

    Aber eigentlich ist das meine Frage: Was bringt uns ins Handeln und zwar so entschieden und unverzagt, wie es das braucht? Eine Freundin sagte neulich: "Wahnsinn: Wir stehen vor einem Abgrund und diskutieren." ;o) So ja auch hier...

  • #22

    Juliane Keitel (Sonntag, 14 Februar 2021 00:44)

    zu #19: "Aber sie vertreten einen militanten Veganismus. Damit grenzen sie auch aus."
    Was ist denn das für ein absurdes Beispiel? Besitzen Veganer*innen etwa Panzer oder Waffen? Ich bin überrascht, dass Sie offenbar gerne zu einer veganen Community dazugehören möchten, Herr Flessing. Welche Privilegien, welchen Segen, welchen Nutzen oder was auch immer versprechen Sie sich denn auf einmal von Gemeinschaften, die sich vegan ernähren, so dass Sie über deren Abgrenzung von Fleischessern so betrübt sind oder sich ärgern? Liegt das nicht auf der Hand?
    Es wäre doch ziemlich merkwürdig, wenn ich beispielsweise einer Burschenschaft (und bei einigen würde das Attribut 'militant' sicher besser passen) vorwerfen würde, dass sie mich als Frau nicht reinlassen, und mich dann auch noch ausgegrenzt fühle, oder? Wenn man also mit veganem Essen nichts am Hut hat, dann beklagt man sich nicht darüber, dass man nicht dazugehört.
    In diesem Sinne ist Ihr Ausgrenzungsbeispiel also ziemlich unlogisch. Und es kann vor allem nicht im Ansatz verglichen werden mit der Ausgrenzung von Menschen, denen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion, oder auch ihrer sogenannten "Leistungsfähigkeit" eine Existenz in Sicherheit und Würde vorenthalten wird. Ausgrenzung im apokalyptischen Sinne trifft das radikale Urteil: entweder machen wir endlich Ernst damit, dass solche Dinge nicht mehr geschehen, oder wir arbeiten im kapitalistischen System, das jene existenziellen Ausgrenzungen systematisch immer wieder neu hervorbringt, weiter mit, auch als Kirche. Soweit die Theorie, die leider nicht nur Theorie ist, sondern eben auch tödliche Realität .

    Meine praktischen Beispiele in #15 habe ich vollkommen anders gemeint, als Sie, Herr Flessing, sie in #21 nun verwenden. Es sind tatsächlich Dinge, die im Hier und Jetzt passieren, und die mir (mindestens ein wenig) Hoffnung machen - soweit einverstanden.
    Aber zum einen haben diese Bewegungen längt nicht einen breiten gesellschaftlichen (und kirchlich-christlichen) Konsens. Dieser besteht wohl eher in jener Blase wie aus #21 "Wir können etwas bewegen, etwas ändern. Gott möchte, das wir tätig sind. Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Raum schaffen in den Herzen für Menschen in Not." Damit bleiben Sie aber nur stecken im Gedanken, dass das Bestehende "geändert" werden soll. Das aber endet, wie wir wissen und tagtäglich sehen, im Dytopischen, zumindest für sehr, sehr viele Menschen. Meine Beispiele machen die apokalyptische Situation zunächst erst einmal nur viel greifbarer und transparent, weil sie die Finger in die Wunden legen.
    Und zum anderen: Zu Ende gedacht könnten sie eben durchaus das Potential haben - und das meinte ich damit, dass sie Althergebrachtes erschüttern - dem Bestehenden jenen Tritt zu geben, der tatsächlich Ernst macht und einen Bruch mit dem Althergebrachten wagt. Und das ist es halt, was zu den problematischen Momenten dieses Denkens gehört, wie Paul in #20 geschrieben hat. Aber es ist eben auch noch nicht gesagt, dass es Blut und Tote dabei geben muss, nur weil wir nicht imstande sind, uns das anders vorzustellen. Ich meine, wir glauben an die Auferstehung, und können uns nichts anderes als das Althergebrachte vorstellen, wie es immer schon war? Wie arm stehen wir nur mit unserer 'Hoffnung' da, wie kleingläubig.

  • #21

    Gert Flessing (Samstag, 13 Februar 2021 21:46)

    Jaaa, so ungefähr habe ich es mir schon gedacht. "...das apokalyptische Denken grenzt aus." Da sind die, die hinter der "Abgrenzungsfolie" die Tränen getrocknet bekommen und jene, die vor dieser Folie Tränen vergießen.
    Da frage ich mich doch, ob wir noch wirklich "christlich" sind, wenn wir das befeuern.
    Als Johannes seine Apokalypse bastelte, war sie ein Trostbuch für jene Gemeinden, die unter Verfolgung zu leiden hatten. "Haltet aus, hinter der "Abgrenzungsfolie der bösen Welt" wird Gott euch das "himmlische Jerusalem" bereiten.
    Da lese ich nichts davon, das Gottes "erwählte" zum Schwert greifen, um "die böse Welt" hinweg zu fegen. Wohl ein Grund, warum die Zeugen Jehovas, denen dieses Buch recht wichtig ist, den Wehrdienst ablehnen.
    Natürlich sieht die Welt einer Mutter, die mit ihrem Kind fliehen musste und erlebt, das es erfriert, anders aus, als das einer Mutter, die es warm und trocken hat und weiß, was es morgen geben wird. Ich denke an meine Mutter, die im Januar 45 ihr Kind, das knapp zwei Monate war, irgendwo, am Straßenrand, verscharren musste.
    Ja, das ist auch kein neues Bild.
    Mein apokalyptisches Denken spricht ein Urteil.
    Als Christ sage ich: Wir können etwas bewegen, etwas ändern. Gott möchte, das wir tätig sind. Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Raum schaffen in den Herzen für Menschen in Not. Frau Keitel hat auf manches, was es gibt, hingewiesen. Das sind Ansätze.
    Ich weiß, das viel zu tun ist.
    Als Mensch, der in der Politik war, sage ich: Wer politische Macht hat und sich ein Herz bewahrt hat und vielleicht auch noch Glauben darin trägt, der kann auch helfen, die politischen Grabenkämpfe zu überwinden. Die hindern nämlich daran, Menschen, die an den Grenzen Europas verrecken, eine geordnete und sinnvolle Perspektive zu geben, denn mit einem hier her lassen und hoffen, dass sich dann alles regeln wird, ist es nicht getan. Als Kirche können wir auf Politiker einwirken, ihnen Mut machen, Kraft zusprechen und immer wieder auf Gottes Willen hinweisen.
    Ich habe das, wo ich mit meinen Abgeordneten im Gespräch war, immer wieder getan.
    Ich möchte, in meinem Blick auf die Zukunft, die ich durchaus für eine Zukunft Gottes halte, niemanden ausgrenzen. Gott möchte, das allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Nur so können wir auch alle miteinander zu seinem Frieden beitragen.
    Gert Flessing

  • #20

    Paul F. Martin (Samstag, 13 Februar 2021 16:13)

    Hallo Herr Flessing,
    um es ganz deutlich zu sagen - das apokalyptische Denken grenzt aus. Da wird sehr exklusiv gedacht. Und das gehört zu den problematischen Momenten dieses Denkens. Allerdings ist der Hintergrund eben ein sehr ernster, der uns zumindest zum großen Teil fremd sein dürfte, da wir Die Welt von unserer Seite aus betrachten. Und natürlich brachte die Französische Revolution viele Schrecken hervor. Da verlor sich sehr schnell aus dem Blick die Schrecken der Normalzeit. Wie heute auch. Aus unserer Perspektive sieht die Welt anders aus als aus der Perspektive eines Vaters, der sieht, wie sein Kind von Ratten angefressen wird, weil das Christliche Abendland keinen Platz in der Herberge hat - oder einer Mutter, die mit ihrem Kind fliehen musste, weil sie wirklich Widerstand gegen eine wirkliche Diktatur geleistet hat und nun an der Grenze zu Europa sieht, wie ihr Kind erfriert - und zwar nicht an der sozialen, sondern an der wirklichen Kälte (aber aufgrund der sozialen). In diese Situationen spricht das apokalyptische Denken ein Urteil. Und klar - das kann uns nicht gefallen.

  • #19

    Gert Flessing (Samstag, 13 Februar 2021 11:12)

    Ich denke, dass die großen Brüche, die ich in der Geschichte sehe, immer Opfer gekostet haben. Ich denke es, weil es einfach so war. Ob ich die französische Revolution sehe, die "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" postulierte und damit ja auch etwas sehr Positives in die Welt brachte, oder den Sieg des Bolschewismus in Russland, oder, wenn man so will, den Sieg des Christentums über das Heidentum Roms - ich denke an Hypatia von Alexandria als ein prominentes Opfer - all das war mit unzähligen Toten verbunden.
    Die anderen Toten, jene von Unterdrückung und Repression, Menschenverachtung und Rassismus, gab es auch schon immer. Sie sind kein besonderes Merkmal unserer Tage.
    Wann immer Menschen Veränderung schrien, ging es gewiss auch um gerechtere Verhältnisse. Jedenfalls äußerlich. Im Grunde aber um Macht. Die Macht, deutlich zu machen, was gerecht ist und was nicht.
    Auch das muss/müsste, sollte, nicht stimmen. Es stimmt aber leider nur zu sehr.
    Und wenn ich höre, dass eine "Genossin" öffentlich davon schwadroniert, das man ja 2% der besitzenden Klasse umlegen könne, weiß ich, welches Zukunftsbild manche Leute haben.
    Wenn die Apokalypse von einem Anfang singt, bei dem die Tränen abgewischt werden, dann liegen die 2% schon hinter eben jener Abgrenzungsfolie.
    Natürlich muss es eine Veränderung geben, etwas, was Hoffnung schafft. Natürlich gibt es im Grunde keine Leistungsgerechtigkeit. Auch das ist ein Begriff, der eine Falle ist. Er grenzt jene aus, die nicht leistungsfähig sind.
    Ihr Ansatz mit jenen Menschen, die bewusst "anders" leben, ist mir da hoffnungsvoll und nachvollziehbar. Ich sehen auch, das viele junge Menschen nach solchen Möglichkeiten suchen. Ich wünschte mir, das diese Ansätze noch weiter um sich greifen würden, noch stärker publik würden. Vor allem wünschte ich mir, das sie sich selbst offen hielten und nicht in ideologische Verengungen fielen, wie ich es bei einer kleinen "Kommunität" erlebt habe, zu der die Tochter einer Bekannten gehört. Alles gut und schön. Aber sie vertreten einen militanten Veganismus. Damit grenzen sie auch aus.
    Für mich ist es ein Zeichen dafür, das selbst etwas, was Hoffnung bringen kann, in altbekannte Fallen tappt. Siehe "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Wenn du nicht so denkst, so lebst, so isst, gehörst du nicht zu unserer neuen Welt.
    Dennoch sollten wir nicht müde werden, das Neue zu suchen und, wo es uns möglich ist, zu leben.
    Gert Flessing

  • #18

    Juliane Keitel (Samstag, 13 Februar 2021 00:19)

    #13: "...weil wir auch Neoliberalisten sind und uns einreden lassen, "Gerechtigkeit" könne auch anders definiert werden, könne auch Leistungsgerechtigkeit sein."
    Das finde ich auch nochmal sehr diskussionswürdig. Das habe ich mit der etwas pointierten Metapher von den "Reichen und Schönen" gemeint und mit ihrer Macht, den Diskurs und das, worauf zu hoffen sei, zu bestimmen... Für mich führt u.a. die sog. "Leistungsgerechtigkeit" mitten in die Katastrophe bzw. ist mit verantwortlich für die Probleme unserer Zeit. Ich will jetzt nicht prohphetisch labern, aber wenn wir die nicht langsam mal abschütteln, keine Ahnung, was dann kommt... aber jedenfalls nichts Gutes. Sie verdient nichts anderes als einen gewaltigen Tritt.

  • #17

    Juliane Keitel (Samstag, 13 Februar 2021 00:04)

    #16: "Doch der große Bruch, der die Gesellschaft so verändert, das jenes System, in das wir sehr fest hinein verwoben sind und eben auch als Kirche, aufgelöst wird und einem "gerechteren" (?) Platz macht, ist für mich nicht zu sehen. Schon gar keiner, der nicht mit unzähligen Toten verbunden wäre."
    Warum denken Sie immerzu an Umsturz oder Revolution mit Toten in Zukunft, Herr Flessing? Die gibt es doch jetzt! Tote mitten im Leben, Tote und Leidende überall auf der Welt, wohin das Auge blickt! Um die müssen wir uns kümmern, dafür brauchen wir Kraft und Hoffnung. Damit haben wir genug zu tun.

    Ich lese schon immer irgendwie von Angst in Ihren Texten, ohne das moralisierend zu verurteilen. Denn: was wäre denn der Unterschied zwischen einer Angst, es würde nicht für alle reichen, und einer Angst vor Verteilungskämpfen? Da gibt es doch keinen, oder? Abgesehen davon, dass beides nicht stimmt oder nicht stimmen muss/müsste: Beides beginnt in unseren Vorstellungen und tödlichen Gewohnheiten, beides hat ähnliche Auswirkungen auf unser Zusammenleben, nämlich Ein- und Ausschlüsse, Diskriminierung hier, Diskriminierung dort. Mit den Folgen von Krieg, und mit der Kategorisierung: du gehörst zu uns, du aber nicht. Wenn Apokalpyse vom Anfang singt, dann ist genau das ihre Abgrenzungsfolie. Das will, soll, ja vielleicht auch dürfte eigentlich nicht mehr sein, denn es gibt ein Neues, in dem Tränen abgewischt werden, in dem sich Menschen dafür verantwortlich fühlen, dass Tränen abgwischt werden. Und genau das gibt es ja auch. Gleichzeitig. Jetzt schon.

  • #16

    Gert Flessing (Freitag, 12 Februar 2021 18:09)

    Ich schrieb nicht dezidiert, das ich glaube, das, was zum Leben notwendig wäre, würde nicht für alle reichen. Das ist es auch nicht, was ich fürchte.
    Ich denke, das es hier um "Verteilungsgerechtigkeit" geht. Aber wird es diese Menschheit schaffen, dieses Problem zu lösen, ohne sich selbst zu betrügen?
    Und natürlich kann man die Kirche da nicht raus nehmen. Gewiss haben wir hier keine bleibende Stätte. Doch an die Stätte, die wir haben, haben wir uns gewöhnt und in ihr eingerichtet und hoffen, das wir sie haben, solange wir noch "in diesem Leibe" sind.
    Das, was Sie, liebe Frau Keitel, als Ihre Hoffnung postulieren, kann ich nachvollziehen. Es gibt all diese Beispiele von Menschen, die handeln, die anders handeln, die neue Wege suchen. Auch ich finde das gut und warum sollte Gott nicht dabei sein. Er ist es gewiss.
    Ich weiß nicht einmal, ob all das, was Sie aufzählen, "Althergebrachtes" erschüttert. Es mag pieksen.
    Ich sehe da auch keinen Ansatz für eine Drohkulisse. Schon gar nicht für eine apokalyptische. Was ist bedrohlich daran, wenn Menschen nach Lesbos fahren, um dort, vor Ort, zu helfen? Was ist apokalyptisch, wenn Menschen mehrerer Generationen zusammen leben, wirtschaften und ihr Ding machen? Gott fragt nicht nach Trauscheinen, falls Sie das meinen.
    Ich hätte meinen Kindern auch ermöglicht, Freitags für das Klima zu demonstrieren. sonnabends hätten sie dann nacharbeiten können. Das Männer und Frauen sich die Arbeiten im Haus teilen und sich Zeit für die Kinder nehmen, ist, in meinen Augen, selbstverständlich. Gewiss, da war ich auch privilegiert, weil ich nicht Schicht arbeiten musste. Aber es ist vieles machbar.
    Doch all das löst nicht das generelle Problem. Es sind kleine Veränderungen, die wir an manchen Ecken erleben können.
    Doch der große Bruch, der die Gesellschaft so verändert, das jenes System, in das wir sehr fest hinein verwoben sind und eben auch als Kirche, aufgelöst wird und einem "gerechteren" (?) Platz macht, ist für mich nicht zu sehen. Schon gar keiner, der nicht mit unzähligen Toten verbunden wäre. Da bin ich wieder bei Johannes. Seine apokalyptischen Reiter sind durchaus eine Realität.
    Gert Flessing

  • #15

    Juliane Keitel (Freitag, 12 Februar 2021 15:46)

    zu #14: Schon die Angst davor, dass es nicht für alle reichen könnte, ist ein herkömmliches apokalyptisches Schreckensbild, das eben gerade nichts von Hoffnung weiß. Von wem wird es genährt? Und woher kommt es? Wem nützt es? Ich denke, dass wir die Antwort kennen. Bedauerlich, dass man 'die Kirche' da leider ganz und gar nicht rausnehmen kann.
    Der Bruch würde darin bestehen, hier - endlich - diese (in meinen Augen unbegründete) Angst fahren zu lassen. Welche Funktion sollte sie haben, wenn nicht das Bestehende 'zu retten', von dem wir wissen (nicht nur als Christ*innen), dass es nicht zu retten ist und auch nicht das zu Rettende ist, weil wir nämlich "hier keine bleibende Stadt" (Heb 13, 14) haben? Diese Angst ist Selbsttäuschung, denn sie ist unnütz für diejenigen, die sie artikulieren, weil sie nicht helfen wird, ihre bzw. die Probleme, die da sind, zu lösen. Und sie ist langfristig existenziell bedrohlich für uns alle, aber zu allererst, jetzt, in diesem Moment, schon für diejenigen, deren Leben ohnehin im Dystopischen steckt, wie Anne Veit ja auch schon geschrieben hat (#13).

    In dem Zusammenhang machen mir viele Menschen (besonders aus der jüngeren Generation, aber nicht nur) großen Mut - Sie fragten in #12, lieber Herr Flessing, nach meiner Hoffnung, - die nämlich den Versuch unternehmen, die Dinge anders zu denken und zu leben: Die nicht mehr in Vollzeit arbeiten möchten, weil sie Zeit für ihre Kinder haben möchten; die am Freitag - mit allen persönlichen Konseqenzen! - die Schule schwänzen, um auf die drohenden Veränderungen unseres Klimas hinzuweisen und dringend anmahnen, das uns Menschenmögliche dagegen zu tun; die in Schul- und Lehrbüchern, und auch - 'natürlich' - in der Bibel tödlichen Rassismus, Antisemitismus und Sexismus bemerken und zurückweisen; die in Kommunen leben, in denen generationenübergreifend und solidarisch miteinander gelebt, geliebt und gearbeitet wird; die sich ins Auto setzen und nach Lesbos fahren, um einfach uneigennützig und ohne mediale Aufmerksamkeit zu helfen. Es gibt viele solcher Beispiele, man muss nur richtig hinschauen und hinhören. Und wenn dann die Frage nach Gott* auftaucht: Sollte er da etwa nicht dabei sein?
    Auch wenn die Beispiele Althergebrachtes erschüttern mögen - ich bin für diese dankbar. Sie nähren in mir das Gefühl, dass es Hoffnung gibt, weil sie auch schon 'in der Welt' sind, parallel zur sich ankündigenden Klimakatastrophe, zu Corona, zu Krieg und Terror allerorten. Ein großes Probleam aber ist es, dass es Menschen gibt, auch in den Kirchen, die genau solche Beispiele als Teil apokalyptischer Drohkulissen aufbauen und zu nutzen wissen. Sie knüpfen an die von Herrn Flessing beschriebene Angst an.

  • #14

    Gert Flessing (Donnerstag, 11 Februar 2021 22:23)

    Natürlich fürchte ich (weniger für mich selbst - aus dem Alter bin ich raus, aber wenn man Kinder und Enkel hat...) harte Brüche. Was nicht bedeutet, das ich sie nicht, eventuell, für notwendig halte. Man möge mir aber meine Zweifel verzeihen, wenn ich an das Ergebnis von dem, was Menschen so langläufig gestalten, denke.
    Meine Eltern, beide Jahrgang 1916, haben in ihrem Leben Brücke erlebt. Keiner davon hat wirklich etwas Gutes gebracht.
    Natürlich sehe ich die Nöte der Menschen, die weltweit unter dem, was wir jetzt als System haben, leiden, sehe die Bilder derer, die auf Schlauchbooten im Mittelmeer treiben usw...
    Welcher Umbruch aber würde das so verändern, das "es für alle reicht"?
    Der Kapitalismus ist es nicht, aber der erlebte Sozialismus russischer Prägung oder unser Abklatsch in der DDR, waren es auch nicht.
    Der Reflex, in Chaos und Umsturz nichts Gutes erkennen zu können, ist doch, nach den Erfahrungen der Vergangenheit, nur zu berechtigt.
    Ein Problem jeder Umwälzung ist doch, das sie nicht nur Lichtgestalten hat, sondern auch den Bodensatz nach oben befördert. Der ist zäher als jene, die wirklich Gutes wollen.
    Das ist wohl auch der Grund dafür, das bei Johannes, Gottes Reich erst anbricht, nachdem alles, was hier war, mit Gier und Eigennutz usw. überwunden wurde.
    Ja, wir leben in Mitteleuropa sehr komfortabel. So komfortabel, dass wir die Muße haben, uns solche Gedanken zu machen. Das Glück hätten wir dort, wo täglich Menschen aufbrechen, um hier her zu kommen, nicht.
    Ja, wenn man sich auf solches Denken, wie wir es gerade versuche, einlässt, erschüttert das ganz schön.
    Letztlich ist es genau das, um was es im Jesajatext für Sonntag geht. Nicht fromm tun, sondern gerecht leben.
    Wie wir es im Kleinen versucht habe, hatte ich unten angedeutet. Wie wir es aber im Großen gestalten können, erschließt sich mir noch nicht.
    Gert Flessing

  • #13

    Anne Veit (Donnerstag, 11 Februar 2021 19:55)

    #10 Ich fürchte mich vor "einem gewaltigen Bruch". Solche Brüche kosten, normalerweise, Menschenleben.

    Hm... das Problem ist, die "Normalität" jetzt, kostet auch Menschenleben. Sie kostet die Menschenleben nur halt weit weg von unseren Haustüren (oder im Zweifelsfalle vor unserer europäischen Türschwelle.) Am Gedanken der Apokalypse fasziniert mich, dass er die Möglichkeit aufmacht: Es könnte alles von Grund auf anders sein. Ich verstehe Juliane Keitels Bedürfnis nach Umbruch.

    Wir stecken in diesem permanent kleine Hoffnungen nährenden weltweiten Wirtschaftssystem völlig fest. Es gelingt kaum, etwas Anderes zu denken, weil sich nichts Neues und wirklich Anderes aus diesem System heraus entwickeln ließe, da kann nicht durch kleine Stellschrauben etwas Gutes draus werden. Wir habe es so weit kommen lassen, dass die Wirtschaft die Gesellschaft bestimmt. Marktkonforme Demokratie. Daraus wachsen keine demokratischen Märkte mehr. Und der Planet trägt das nicht. Das war schlicht ein Irrweg.

    Manchmal muss mensch Irrwege zugeben, zurückgehen und neu anfangen. Vermutlich werden wir nicht vernünftig genug sein, das zu tun. Die Angst, Herr Flessing, die Sie beschreiben, kann ich gut verstehen - als Mitteleuropäerin habe ich viel zu verlieren, wenn es gerechter zugehen sollte auf der Welt. Aber das ist das Gottvertrauen, das ich versuche: Vertrauen in Gottes GERECHTIGKEIT und dass es für alle reicht. Ich versuche, genau diese Angst in Gottes Namen nicht zu haben oder jedenfalls nicht mein Handeln entscheiden zu lassen.

    Die apokalyptischen Texte durchkreuzen meinen Reflex, in allem Chaos und Umsturz sofort Unglück zu sehen, in der Bedrohung des Jetzigen immer Gefahr zu wittern. Es gibt vieles in der Organisation dieser Welt, das sehr grundsätzlich hinterfragt gehört. Die Hoffnung, es würde sich alles über lange sanfte Prozesse evolutionär nach und nach entwickeln lassen, kostet gerade Menschenleben. Kirche erlebe ich meistens so, dass sie diese Art der ruhigstellenden Hoffnung nährt. Auch Kirche ist Teil des Wirtschaftssystems, das die Welt umsponnen und eingelullt hat. In "Qualityland 2.0" ist Neoliberalismus eine Religion. Ich glaube, das stimmt. Der Neoliberalismus hat längst mehr Gläubige als der alte Gott der Bibel. Wir müssten doch eigentlich als Christ*innen immer, wenn Verhältnisse ungerecht werden, sofort rebellieren. Wie wenig tun wir das! Ich denke: weil wir auch Neoliberalisten sind und uns einreden lassen, "Gerechtigkeit" könne auch anders definiert werden, könne auch Leistungsgerechtigkeit sein. Und selbst, wenn wir das als Satz vielleicht nicht sagen würden, arrangieren wir uns doch mit einem System, das selbiges tut. Ich für mich jedenfalls muss sagen, dass ich Dinge/Verhältnisse/Privilegien etc. festzuhalten habe - das macht es mir sehr leicht, einfach nicht zu handeln. Aber ich denke, dass Gott anderes von mir erwartet.

    Das apokalyptische Denken fordert mich sehr heraus. Aber ich bin gerade gewillt, mich davon erschüttern zu lassen.

  • #12

    Gert Flessing (Donnerstag, 11 Februar 2021 16:38)

    Wenn ich nur wüsste, was "richtiges" Gottvertrauen ist. Gottvertrauen ist für mich dann richtig, wenn ich aus Gott keinen Götzen mache, sondern mein Leben, auch im Blick darauf, das Gott immer "der ganz andere" ist, auf ihn werfe. Treues Hören bedeutet, mit seinem Wort leben (sola scriptura) mit seinem Wort ringen (momentan mit dem Jesajatext für kommenden Sonntag) und es auch da ernst zu nehmen, wo ich liebend gern dagegen aufbegehren möchte. Das genau diese Haltung oft wegzubrechen scheint, stimmt. Die Gemeinden schrumpfen.
    Es tut mir leid, dass ich gerade die absoluten Grenzerfahrungen meines Berufes angeführt habe. Aber sie sind besonders einprägsam.
    Natürlich sind mir auch die Nöte der Lebenden nicht verborgen geblieben. Menschen, die aus sehr persönlichen Gründen verzweifelt waren, die abgerutscht waren, obdachlos (das gibt es selbst auf dem platten Land). Aber auch die Erfahrungen jener Menschen aus der Gemeinde, die in der Rumänienhilfe, dort vor Ort, mühsam versucht haben, Menschen, gegen die selbst die, die in der hiesigen Gemeinde, ganz unten waren, noch gut da standen.
    Welche Hoffnung gibt es da? Im Grunde nur die, die durch unsere direkte Arbeit entsteht. Wenn ich einem entwurzelten Menschen zu einer Wohnung verhelfen konnte, oder wenn die Spenden, die wir als Gemeinde zusammen brachten, ein Wenig Licht in das Dunkel in Rumänien brachten. Wir haben das getan, weil wir dem Wort treu sein wollten. Denn das ist immer wieder die Kraftquelle gewesen, die wir hin und wieder brauchten, um weiter zu machen.
    Welche "Reichen und Schönen" sind es denn, die das "zu Hoffende" zu definieren versuchen. Die meisten dieser Leute sind dem, was Gott und Gottvertrauen ist, sehr fern. Heißt es nicht, dass sie "ihren Lohn schon dahin haben"?
    Es würde mich auch ehrlich interessieren, auf was Sie, liebe Frau Keitel, zu hoffen wagen, angesichts der, nicht nur von Ihnen, beobachteten Brüche.
    Jede "Revolution" hat nur die Figuren neu geordnet. Viele von denen, die Hoffnungsträger waren, haben sich als Monster entpuppt.
    Gert Flessing

  • #11

    Juliane Keitel (Mittwoch, 10 Februar 2021 20:26)

    Zum einen ist dieser Bruch oder Abbruch, den ich meine, wenn man apokalyptisch guckt, längst da und Teil unserer Wirklichkeit. Und er tötet auch schon, da haben Sie Recht, Her Flessing (#10), nämlich sowas wie 'Normalität', sowas wie einen 'richtigen' Glauben, oder die Wohlfühlzonen von uns, wenn wir meinen, mit einem richtigen Gottvertrauen oder und einem treuen Hören auf Gott* schon alles gut gemacht zu haben, oder "am Besten gefahren" sind, wie Sie in # 7 schreiben. Das alles ist, glaube ich, vielerorts am Abbrechen, und das macht mir, ehrlich gesagt, Hoffnung.

    Zum anderen hatte ich gar nicht an die Begleitung Sterbender gedacht, da fehlen mir auch wirklich die Erfahrungen, sondern an die der Lebenden, für welche die Verheißung von Gottes Neuer Welt vielfach an Hoffnungsbilder geknüpft wird, die lähmen, die pädagogisieren, die ein- und ausgrenzen; Sie hatten eine solche Ausgrenzung formuliert, lieber Herr Flessing: "wenn sie ihm und seinem Wort treu bleiben". Damit wird Hoffnung funktional und verengt. Und sie wird korrumpierbar, verwendbar, man kann sie instrumentalisieren. Und das geschieht ja auch, nämlich in den Bestimmungen dessen, was genau denn das zu Hoffende sei. Und ja: das sind dann durchaus oft die "Reichen und Schönen", oder auch eine kirchlich-christliche Sicht/Lehrmeinung, die das zu Hoffende über ihre Privilegiertheit und Macht definieren und auch bestimmen.

  • #10

    Gert Flessing (Mittwoch, 10 Februar 2021 17:28)

    Ich fürchte mich vor "einem gewaltigen Bruch". Solche Brüche kosten, normalerweise, Menschenleben.
    Es geht auch nicht darum, "nichts zu tun". Das mit Gottes Armen und Beinen, ist recht bekannt. Es stimmt, denn wir sind zum Tun des Gerechten, aufgerufen.
    Das dystopische, chaotische, ist mir nicht fremd. In der letzten Phase der DDR war es, wenn man bestimmte Bereiche der Wirtschaft und der Städte aufsuchte, offensichtlich.
    Ja, auch das Grauen, den Schmerz und den Tod habe ich als Seelsorger erlebt. Aber auch die Kraft des Wortes Gottes an Sterbebetten und bei todkranken Menschen.
    Von meinem eigenen Leben und seinen Wendungen will ich nicht reden. Aber immer war es die Treue zu Gottes Wort, die mir Kraft gab. So, wie ich halt erlebte, das andere Menschen genau dort Kraft fanden.
    Ist Gott dann gekommen? Ich antworte ganz ernst - ja. Seine Nähe durfte ich gerade da, wo Menschen völlig am Ende waren, spüren. Da, wo ich den letzten Segen sprechen musste, die letzte Vergebung zusprechen durfte, war ich nie allein.
    Sie mögen es für das Geschwätz eines alten Mannes halten. Aber vielleicht machen auch Sie noch diese Erfahrung.
    Es geht nicht darum, "brav das zu tun, was irgendwelche Reichen und Schönen sagen". Es geht darum, das zu tun, was Gott sagt.
    Ja, ich war privilegiert. Ich hatte und habe das Privileg, aus der tiefen Gottesgeborgenheit leben zu dürfen.
    Gert Flessing

  • #9

    Juliane Keitel (Dienstag, 09 Februar 2021 21:42)

    #6: "in diesen boden pflanze ich nicht" - Was für wahnsinnig-schöne Worte. Danke, lieber Paul.

    #7: Lieber Herr Flessing: "Bei Johannes schafft Gott eine neue, eine bessere Wirklichkeit. Gott! Nicht die Menschen. Die nimmt er mit dort hin, wenn sie hm und seinem Wort denn treu bleiben."
    Diese Form von "Hoffnung" macht krank. Hoffnung als christliche Tugend - das Konzept ist gescheitert. Tun-Ergehen-Zusammenhang, Bedingungen für das Heil, patriarchal-protektionistische Bilder - vielen Dank, das hatten wir schon, das haben wir immer noch, und das ist Entfremdung. Eine apokalyptische Perspektive, die vom Anfang denkt, sieht genau dort hin und sagt wahrscheinlich: Nein, so nicht. Lass das sein. So brauchst du nie mehr zu denken, zu sprechen, und ja: auch nicht zu hoffen. Denn das ist auch nicht Gott*.
    Ist das ein unbarmherziges Denken? Ich glaube nein, denn es ist nichts weiter als ehrlich. Und eben nicht einlullend.

    Dass Ihnen apokalyptisches Erleben (im 'herkömmlichen' Sinne des Dystopischen, des Chaos, des Schrecklichen) fremd ist, lieber Herr Flessing, überrascht mich. Dass Sie als Person offenbar immer auf der anderen, privilegierten Seite standen - das mag Ihre Erfahrung, Ihre Realität sein. Aber haben Sie das als Seelsorger übersehen können? Oder hatten Sie Erfolg dabei, alles mit dieser Art der eschatologischen Hoffnung zu übertünchen, geknüpft an die Verpflichtung zur Treue, zum Gehorsam, zum Regeln-Einhalten usw., so dass die dystopischen Schatten sich in Luft auflösten? Und - ich weiß, das mag provokativ klingen, aber ich frage Sie ganz ernst - ist Gott dann gekommen und hat die Braven mitgenommen in seine Welt?
    Mit Verlaub, aber das hört sich schon ein wenig nach allem an, was u.a. Marx und andere zu Recht kritisiert haben, oder? Vertröstung aufs Jenseits, in dem alles besser wird, wenn - ja, wenn! - ihr euch bis dahin geduldet (in Hoffnung...) und brav das tut, was euch die Reichen und Schönen sagen. Sollte man in diesen Boden weiter pflanzen? Ich sehne mich nach einem gewaltigen Bruch damit.

    Und um nochmal auf Ihr Johannes-Zitat zu kommen: Eine Freundin aus meiner Gemeinde sagte einmal bei einer Tischgemeinschaft: Gott* hat keine Arme und Beine - und er kann uns insofern auch nicht in sein Reich tragen, Herr Flessing. Soviel zum dystopischen Nichtstun.

  • #8

    Paul F. Martin (Dienstag, 09 Februar 2021 16:32)

    Lieber Herr Flessing,
    es freut mich für Sie, dass Ihre Realität so aussieht. Es gibt Menschen, die in anderen Realitäten leben.
    Und das ist ein Grund für die Apokalyptik - Menschen machen die Erfahrung, dass gerade das Vertrauen in Gott sie in die Katastrophe führt. Genau auf diese Erfahrung war und ist sie ein Antwortversuch.
    Dem letzten Punkt stimme ich zu. Eine Einschränkung: Auch Nichtstun kann in die Dystopie führen.
    P.F. Martin

  • #7

    Gert Flessing (Dienstag, 09 Februar 2021 11:41)

    Aufgewachsen bin ich mit Utopien. Nicht nur jener von der besseren Gesellschaft der DDR, sondern auch den literarischen, in denen der Kommunismus alles möglich macht.
    Gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Fortschritt kannten keine (literarischen) Grenzen. Erst kürzlich habe ich wieder mal Snegows "Menschen, wie Götter" in der Hand gehalten.
    Heute leben wir in einer Zeit, in der die Utopien durch Dystopien ersetzt worden. Ist die meiste Apokalyptik nicht auch Dystopie? Wenn ich die Offenbarung des Johannes betrachte, finde ich da so manches, was heutige Dystophiker auch umtreibt. Nicht umsonst muss Armageddon für zahllose Filme herhalten.
    Nur: Bei Johannes schafft Gott eine neue, eine bessere Wirklichkeit. Gott! Nicht die Menschen. Die nimmt er mit dort hin, wenn sie hm und seinem Wort denn treu bleiben.
    Ich lebe in einer Realität, die nichts apokalyptisches an sich hat. Sie ist nicht besser und nicht schlechter, als sie es immer war. Nur anders. Das ich Hoffnung habe und diese weder auf Parteien noch auf Ideologien setze, sondern auf Gott, ist nicht evangeliumslullig, sondern basiert auf Lebenserfahrung.
    Noch immer sind Menschen mit Gottvertrauen und darauf basierendem, gelassenen Wirken des halbwegs Guten, im Blick auf die Mitmenschen, am Besten gefahren.
    Der Wunsch, aus eigener Kraft, auf Erden schon das Himmelreich errichten zu wollen, ist eine Utopie, die dort, wo versucht wurde, sie umzusetzen, meist zu Dystopie wurde.
    Gert Flessing

  • #6

    Paul F. Martin (Montag, 08 Februar 2021 13:28)

    Liebe Juliane, Hoffnung ist christlich eine Tugend und sonst der letzte Fluch, der in der Pandora bleibt. Es geht also um die Frage, was Hoffnung meint und wofür wir hoffen. Dazu habe ich letztens ein Gedicht von Charlotte van der Mele gelesen, das mir hier sehr passend scheint:

    hoffnunglos

    mein lavendel grau
    im neuen frühjahr
    an meiner gestorbenen hoffnung
    nährt sich mein zorn
    wie pilze an erschlagenen bäumen

    in diesen boden
    pflanze ich nicht
    ich zufrühgekommene
    hoffte zu lang

    und bin nun frei
    nichts zu erwarten
    als die auferstehung
    zum gericht

    Liebe Grüße
    Paul

  • #5

    Juliane Keitel (Sonntag, 07 Februar 2021 18:21)

    zu #4 und #5:
    Weil die Entfremdung total ist, kennt die Apokalyptik keine Zugewandtheit zu dem, was ist... das geht mir sehr nach, weil es einfach sehr hart klingt. So sehr das in meinen Augen stimmt, so sehr stülpt es doch die liebgewordenen Denkgewohnheiten um. Es kann nicht mehr um Zugewandtheit in dem Sinne gehen, dass etwas, das ist, bewahrt und konserviert werden kann oder den Anspruch darauf, also auch auf eine privilegierte Behandlung, formulieren kann. Was sollte das auch sein, was nicht bisher grandios versagt hat, gescheitert ist, menschenfeindlich geworden ist?
    Es beißt sich nur so sehr mit dem Wort "Hoffnung" oder mit dem, was wir gemeinhin darunter verstehen (Wachsen, Werden, gelingende Zukunft...).
    Mir fielen die Tage immer wieder Jesu Worte ein "Lasst die Toten ihre Toten begraben" (Lk 9, 60/Mt 8, 22 - wobei die Lukasfassung für mich den schöneren Schluss hat). Immer, wenn mein Vater die Gräber von Verwandten mit mir besuchen will, habe ich das Gefühl, es ist unnötig, es lenkt ab von dem, was vor unseren Füßen liegt. Und das ist wahrscheinlich nicht, etwas zu bewahren, sondern loszulassen und etwas zu beenden... und zwar leider: ohne Gewähr. Das muss man ehrlicherweise mitdenken.

    Übrigens hier mal ein Beispiel von elitärer, menschenfeindlicher Apokalyptik: https://www.focus.de/politik/deutschland/lorenzianer-im-erzgebirge-sekte-als-corona-treiber-nur-ein-lorenzianer-ohne-maske-ist-ein-guter-lorenzianer_id_12939214.html - Hoffnung nur für 'Auserwählte' und um den Preis der Schädigung anderer.

  • #4

    Paul F. Martin (Freitag, 05 Februar 2021 10:56)

    Lieber Andreas,
    danke für Deine Antwort. Ein paar Gedanken von mir dazu.

    Das apokalyptische Denken ist ein Bewältigungsversuch. Es gibt andere und andere Traditionen - die alle ein gleiches Recht haben. Und ich finde es wichtig - wie bei Gottesbildern - nicht eine Tradition auf den Sockel zu heben. Es geht um eine Balance und um die Frage, was für die Einzelnen gerade tragfähig ist und was gesellschaftlich wichtige Impulse geben kann. 

     
    Zugewandtheit zu dem, was ist, kennt die Apokalyptik nicht, weil die Entfremdung total ist. 

     
    Patriarchal wäre sie nur, wenn sie bestehende Strukturen verlängern würde. An der Stelle finde ich es wichtig, dass wir auf unsere Sprache achten. Gott ist kein Herr und Gottes Herrschaft nicht mit Herrschaft zu vergleichen. Dein Bezug zur Befreiungstheologie ist da ganz wichtig, weil sie dort wieder zu ihrem Sitz im Leben gefunden hat. Gott befreit - von denen, die das Leben zerstören; und zu dem Leben in Gerechtigkeit für alle.

     
    Das apokalyptische Denken findet sich schon in den Propheten  - es wird von den christlichen Gemeinden übernommen und weitergeführt. Aber auch im 1. Testament gibt es neben diesen Vorstellungen andere Traditionen.

     
    Die Frage nach der veränderten Praxis treibt mich auch um. Da habe ich keine Antworten und jede Menge Fragen und nur fürs erste die Idee, dass ich schonungslos ehrlich mit mir sein sollte und mich nicht evangeliumslullig selbst betrüge (dabei aber dennoch den Trost des Evangeliums nicht vergesse). Und dasselbe im nächsten Schritt dann wir als Gemeinschaft. Um dann zu dieser neuen solidarischen Praxis zu kommen - ohne Angst vor den Abbrüchen.

    Viele Grüße
    Paul

  • #3

    Andreas Kastl (Freitag, 05 Februar 2021 10:43)

    Vielen Dank für den Text. Ich glaube, so intensiv habe ich mich schon lange nicht mehr mit einem Text auseinandergesetzt – ich freue mich über das Anschieben meines Denkens.
     
    Der Text fordert mich in vielem heraus, was ich in den letzten Jahren im, vom und für den Glauben gelernt habe, was mir wichtig geworden ist und mich antreibt. In mir regt sich Widerspruch.
    Das deute ich als gutes Zeichen.

    Ich versuche, nicht in dualistischen Gegensätzen zu denken und beim Fragen zu bleiben:
     
    Ich will mich in der Sorge für das Leben üben und in das Verbunden-Sein mit dem Lebendigen einleben. Dabei helfen mir Bilder vom Wachsen, vom Fließen, von Zyklen, vom Einwurzeln.
    Wie passen dazu Bilder vom Abbruch, vom Umsturz?
     
    Mir kommt es so vor, als sei Apokalyptik eine Antwort auf eine total entfremdende Welt – die dann selbst zu einer Entfremdung von der Welt führt.
    Gibt es sie auch in der Zugewandtheit zu dem, was jetzt gerade (dran) ist?
     
    Das Denken und die Bücher feministischer Theologinnen haben mir die Vielfalt der Bilder Gottes aufgeschlossen. Gerade sehe ich bei Apokalypsen eher eins – eine Hoffnung auf einen außerhalb stehenden Gott, der durchgreifen möge. Dieses Bild wirkt auf mich sehr patriarchal.
    Gibt es Apokalyptik auch mit anderen Bildern Gottes als diesem?
     
    Ich habe gelernt, das Neue Testament und insbesondere das Reden und Wirken Jesu in der Tradition und im Bezug auf das Erste Testament zu sehen – das Verbindende, die Weiterführung.
    Wie steht Apokalyptik in/zu dieser Tradition? (Gerade sehe ich auch hier eher den Abbruch.)
     
    Wenn ich es richtig verstehe ist die Offenbarung des Johannes unter dem Eindruck der Unterdrückung im römischen Reich entstanden, angesichts der Unerträglichkeit von Leid und Tod, als Hilfe zur Gegenwartsbewältigung für die Unterdrückten. (Ich sehe Parallelen zu Befreiungstheologien – bei anderen Anknüpfungspunkten und Antworten.) Als weißer Mann im Zentrum, mit dem Privileg, mich von dem meisten Leid der Welt distanzieren zu können, frage ich mich:
    Wie mache ich es mir nicht zu leicht, wenn ich aus den Texten der Apokalyptik zu einer veränderten Praxis finden will? Wem sollte ich erst mal zuhören?

    Direkte Antworten erwarte ich nicht – und freue mich übers gemeinsame Weiterdenken.

  • #2

    Gert Flessing (Donnerstag, 04 Februar 2021 14:08)

    Man muss kein Apokalyptiker sein, um zu ahnen, dass es kein "Zurück zur Normalität" geben wird. Selbst dann nicht, wenn jeder geimpft ist und auch dann nicht, wenn die Impfung wirklich gegen alle Mutationen des Virus wirkt.
    Das liegt aber wohl vor allem daran, das "Normalität" ein recht schillernder Begriff ist. Man kann sehr vieles als "normal" betrachten.
    Ich gehe davon aus, dass diese Pandemie wirklich ein Bruch in der Zeit ist. Ja, ich gehe soweit, für mich jedenfalls, eine Zeitrechnung zu sehen, in der wir jetzt das Jahr zwei Anno Coronae (mein Latein ist mangelhaft) haben.
    Gewiss. Irgendwann werden die Friseure wieder öffnen und die Kneipen und Modegeschäfte.
    Aber diese Gesellschaft wird von einer neuen Angst begleitet werden.
    Die Angst vor der nächsten Pandemie.
    Was sich, wie ich fürchte, nicht ändern wird, ist die Gier der Menschen, die Ungerechtigkeit der Menschen und das Leid innerhalb und außerhalb der Grenzen.
    Was nicht bedeutet, das es unmöglich ist, das sich etwas tut, das es keinen freien Blick auf Kirche und Gesellschaft geben kann.
    Doch werden es wohl eher Einzelne sein. Wie es Apokalyptiker immer waren.
    Gert Flessing

  • #1

    Juliane Keitel (Montag, 01 Februar 2021 19:19)

    Das spricht mir so sehr aus dem Herzen: "Das Bestehende ist nicht zu retten und nicht das zu Rettende. " Vielen lieben Dank für den aufrüttelnden Text!

    Da das Bestehende weder zu retten ist, noch das ist, was wir aufgerufen wären, zu retten, brauchen wir auch keine Angst zu haben - im Gegenteil. Denn es ist der Gang der Welt, sich vom 'Normalen' verabschieden zu müssen, und wir haben genügend Lehrer*innen, von denen Jesus sicher unser prominentester ist, die von jeher mitgehen, die einen Gott* verkörpern, mit dem das stets Neue angepackt werden und gelingen kann, persönlich und gesellschaftlich. Apokalyptik als "freier Blick auf Kirche und Gesellschaft", ein tolles Denkmodell. Es kann nicht mehr darum gehen, sich kirchlicherseits 'ermahnen' zu lassen, wie man ein Leben in Frömmigkeit oder Ehrbarkeit zu führen habe, viel zu lange haben wir uns damit aufgehalten.

    Es schließen sich für mich Überlegungen nach dem Verhältnis von Apokalyptik und Prophetie konkret in unseren Tagen an. Neulich stieß ich zufällig auf diesen Text (https://www.republik.ch/2020/12/23/covid-19-ist-erst-der-anfang) und dachte, wie seltsam es doch immer wieder ist, dass die Menschheit so viel weiß oder wissen kann, da es genügend kluge Menschen gibt, die apokalyptisch denken, reden und schreiben. Und trotzdem dieses Beharren, dieses Festhalten, dieses leidvolle Treten auf der Stelle, in vorgeformten Bahnen...