Am Tisch der Geschwisterlichkeit

Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes. (Lk 13,29)

 

Kommen Sie aus dem Osten?

Wurde Ihnen diese Frage schon einmal gestellt? Mit welchem Gefühl haben Sie diese Frage gehört? Hatten Sie den Eindruck, Ihre Antwort täte etwas zur Sache?

Haben Sie selber diese Frage schon einmal gestellt? Was sollte die erwartete Antwort bezwecken? Ist es hilfreich, geographische Koordinaten zu verwenden, um Menschen zu akzeptieren oder auszuschließen? Was soll die Zuordnung bringen zwischen „Wir“ und „Die“?

 

“I have a dream”, sagte Martin Luther King in seiner berühmten Rede in Washington, “that one day on the red hills of Georgia, the sons of former slaves and the sons of former slave owners will be able to sit down together at the table of brotherhood.”

 

Ist es nur ein Traum, miteinander am Tisch der Geschwisterlichkeit zu sitzen? Das Reich Gottes als Utopie in weiter Ferne? Wohl kaum! Sicher erinnern Sie sich an schöne Momente, als Freundinnen und Freunde, Bekannte und Verwandte zu Besuch kamen, die von nebenan und die von weiter weg. Und wir miteinander an der großen Tafel saßen. Wie wir gemeinsam feierten. Fröhlich und unbeschwert haben wir miteinander gegessen und getrunken. Geschichten wurden erzählt von dem, was Einzelne gelebt haben. Und alle nahmen daran Anteil, hörten zu und ergänzten die jeweils eigene Perspektive.

 

Es ist diese Erinnerung, die nach Zukunft verlangt! Wieder miteinander feiern, wieder miteinander reden, sich einander umarmen, sich wieder unverkrampft begegnen, mit freudigem Gesicht und offenen Armen und Händen. Wieder empfangen, wonach wir uns sehnen. Ja, so hoffen wir! So hoffen Menschen in Sachsen, die durch Corona eingeschränkt sind. So hoffen Menschen in Asien, die für einen Hungerlohn von 9 Cent pro Stunde Kleidung für den Export produzieren. So hoffen Menschen in Lateinamerika, deren Kinder in Bergwerken Lithium für Handy-Akkus und Elektroautos abbauen. So hoffen Menschen am Horn von Afrika, wo sich die Wüste ausbreitet und die raren Wasservorräte noch von Megakonzernen wie Nestlé abgepumpt werden.

 

Wenn doch Zukunft möglich wäre! Frieden und Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Ich glaube: Diese Zukunft ist möglich, weil wir die Erinnerung daran schon in uns tragen. Die Erinnerung an Gottes Reich, wo Leben Freude macht. Nach diesem Reich Gottes sehne ich mich, dafür setze ich mich ein. Denn das Reich Gottes wird Realität, wenn wir aufeinander achten und füreinander sorgen, damit alle Menschen haben, was sie zum Leben brauchen – im Osten und im Westen, im Norden und im Süden. Gemeinsam sitzen wir am Tisch unseres Gottes, schon jetzt und in Ewigkeit.

 

Pfrn. Dr. Mandy Rabe (Auerbach)

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Gert Flessing (Dienstag, 26 Januar 2021 14:40)

    Ja, wir tun es. Wir sitzen gemeinsam am Tisch unseres Gottes.
    Oder etwa nicht? Irgend etwas lässt mich stocken.
    Nein, es ist nicht der Gedanke an Frieden (wer mag den nicht) oder Gerechtigkeit (auch die wünscht sich wohl jeder) oder Bewahrung der Schöpfung (da sind sich die meisten Menschen einig).
    Was mich stocken lässt, ist der Gedanke, das wir alle von denselben Wünschen reden und doch andere Wahrnehmungen voneinander haben.
    Was mich stocken lässt, ist der Gedanke, dass wir wohl an einem Tisch Gottes sitzen, aber das Tischtuch einen Riss aufweist.
    Ich spüre, das es Misstrauen innerhalb der Kirche gibt.
    Es klingt in der Frage: "Woher kommst du?" durchaus an.
    Osten? Westen? Wie bist du denn drauf? Fromm, frömmer, liberal?
    "Sind wir in Christus, so sind wir ein neues Geschöpf. Das alte ist vergangen, siehe, neues ist geworden."
    Woher kommst du?
    Wird die Barmherzigkeit, zu der uns die Jahreslosung ruft, wirklich unsere Herzen erreichen und von dort aus zu den Menschen gelangen?
    Ich fürchte, dass es uns nur schwer gelingen wird.
    Am Rande: Ich bin so gut wie nie gefragt worden, ob ich aus dem Osten komme. Wenn mich doch jemand fragte, sagte ich schlicht, das ich ein Deutscher bin.
    Aber auch das war für manche schon zu viel.
    Gert Flessing