Aus der Reihe der Buchstaben heraus

Maria klettert aus der Reihe der Buchstaben des dicken Buches heraus, zieht sich das Kleid zurecht und geht wie jeden Abend in das kleine Hotel am Bahnhof. Sie wird dort zwischen zwei milchig gelben Lampen hinter der Rezeption sitzen und verliebte Paare, Betrunkene und Geschäftsleute empfangen. Bis morgens um sechs.
Es kommt ein kleiner Junge allein ins Foyer.

Der wohnte schon letzte Woche mit seiner Familie hier - Flüchtlinge aus Afghanistan. Er reicht kaum über den Tresen und spricht nicht. Bescheiden, aber bestimmt tritt er heran und legt einen Euro auf den Tisch. Maria schaut in seine tiefschwarzen Augen, und sie sieht auf einmal etwas - als schaue ein uraltes Wesen aus ihm heraus. Sie erschrickt ein wenig. Beide schauen für eine Ewigkeit ineinander hinein. "Was möchtest du?" - Der Junge zeigt am Tresen vorbei in Richtung Speiseraum. Er geht ein paar Schritte um den Tresen herum. "Willst du da hin? Hast du was vergessen?" Er stellt sich vor die verschlossene Tür. Sie öffnet, und er tritt vor ihr ein. Sie macht Licht. Er geht in die Ecke am Fenster. Dort bleibt er stehen vor einem Holzengel, der an einer schmalen Kette von der Decke hängt. Schaut ihn an. Maria bleibt in der Tür stehen. Ihr kommen Tränen. Sie weiß nicht, warum.
So steht er dort und schaut empor. Nach einer Zeit beginnt er eine Melodie zu singen. Das erste Mal, dass sie seine Stimme hört, tief kehlig. Nicht Kind, nicht Erwachsener - ein Drittes. Stille. Dann spricht er etwas. Es klingt wie eine Litanei, etwas Auswendiges. Dann ein paar Namen.
Er rückt sich einen Stuhl zurecht, steigt drauf und tippt ganz fein gegen den Engel. Der beginnt leis zu schwingen. Stellt den Stuhl zurück und geht rückwärts aus dem Raum, wendet sich an der Tür um zu Maria. Sieht sie weinen. Er geht ein paar Schritte zurück, nimmt Anlauf und wirft sich mit ausgebreiteten Armen aus vollem Lauf gegen sie, sein Kopf liegt vor ihrem Bauch. Sie hält ihn. Er sie. So stehen Sie nun bis in Ewigkeit.
Am anderen Morgen kehrt Maria zurück aus der Rezeption in ihr altes Buch. Nimmt darin Platz in ihrer Kammer, wo sie den Engel treffen wird, der ihr sagt, was Gott mit ihr vorhat.

 

Thomas Hirsch-Hüffel

 

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