Toleranz nach dem Ende aller Selbstverständlichkeiten. Wie die unterschiedlichen Lager in der Landeskirche miteinander umgehen könnten

Zu keiner Zeit in der Kirchengeschichte waren die Glaubenden ein Herz und eine Seele. Aber nur ganz zu Beginn – während der Zeit der Verfolgung der christlichen Kirchen und heute – nachdem die Kirche keine ordnungsstiftende Funktion im Staat mehr hat – hatten und haben die Gemeinden und Christ*innen keine Möglichkeit, ihre Wahrheitsansprüche mit Hilfe staatlicher Behörden durchzusetzen.

 

Damit verbunden ist zugleich ein Ende aller Selbstverständlichkeiten. All die Überlegungen, die mit dem Etikett "Postmoderne" verbunden sind, laufen auf eine Relativierung aller Überzeugungen hinaus. Wahr sei, was jemand für wahr hält – und es ist schwer, diese Überzeugung zu entkräften.

 

Das stellt uns als Christ*innen vor einige Herausforderungen, da wir ja mit dem Wahrheitsanspruch Gottes in Jesus konfrontiert sind. Und obwohl es der eine Herr, der eine Geist, die eine Taufe sind – sind die Unterschiede zwischen den Konfessionen und auch innerhalb der Konfessionen teilweise unüberbrückbar. Alle berufen sich auf Wahrheitsansprüche, aber wie lassen sich diese erweisen? Wie damit umgehen, daß die Einen den Anderen – wechselseitig – absprechen, im Namen Jesu zu sprechen oder für die Sache Jesu einzustehen? Was wäre ein geeigneter Maßstab, um zu entscheiden, wer recht hat? Und was, wenn es so einen Maßstab gar nicht gäbe?

 

Vielleicht sollten wir nicht nach einem gemeinsamen Maßstab suchen, sondern nach einer gemeinsamen Haltung für den Umgang miteinander fragen. Dazu dienen diese Überlegungen.

 

Nach meiner persönlichen Überzeugung ist die Haltung der SBI und ihre Theologie in keiner Weise mit dem Evangelium vereinbar. Ich halte alle theologischen Versuche für unsachgemäß und alle Äußerungen empfinde ich als pharisäerhaft (in dem Sinne, wie die Pharisäer polemisch im NT vorgeführt werden) und unevangelisch. Nach meiner Überzeugung kann ich dafür sehr viele stichhaltige Argumente anführen. Aber – dies meine Erfahrung – meine Argumente werden von vielen Vertreter*innen des evangelikal-fundamentalistischen Lagers nicht als Argumente akzeptiert.

 

Auf der anderen Seite weiß ich aus Gesprächen mit Vertreter*innen des evangelikal-fundamentalistischen Lagers, daß sie meine Überzeugungen für nicht evangeliumsgemäß halten. Dafür bringen sie Argumente vor, die für sie evident sind, die ich aber für unangemessen, falsch und unsinnig halte.

 

So stehen wir uns also in der typisch postmodernen Situation gegenüber: Unsere Wahrheitserweise erkennen wir wechselseitig nicht an, unsere Begründungen begründen nur für uns – nicht aber für die Diskurspartner*innen – und es gibt keine schlichtende Stelle, die eine Haltung absolut setzen könnte. Und wir müssen irgendwie miteinander auskommen.

 

An der Stelle möchte ich einen Toleranz-Begriff anbieten, der es ermöglicht, die wirklich fundamentalen Unterschiede auszuhalten, ohne sie zu nivellieren – und zugleich in einer Landeskirche verbunden zu bleiben.

 

Tolerieren meinte – verkürzt – das Dulden abweichender Überzeugungen. Toleranz wurde Minderheiten gewährt, denen es damit möglich war, nach ihren Überzeugungen zu leben. Toleranz-Gewährung war ein Akt der Großzügigkeit, der durchaus auch widerrufen werden konnte. Toleranz signalisierte ein Machtgefälle. Wer toleriert wurde, war abhängig von dieser Duldung; wer dagegen tolerierte, zeigte an, daß sie oder er sich diese Haltung – als Gnadenakt – leisten konnte.

 

 

Im heutigen Rechtsstaat wird Toleranz als Gewährung von Schutz für eine Minderheit gegenstandslos, da die Rechte aller – auch der Minderheiten – durch Gesetze geschützt werden. Sowohl religiöse Minderheiten als auch Menschen mit ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen müssen nicht mehr auf Toleranz hoffen, weil alle Träger*innen gleicher Rechte sind.

 

Was bedeutet das aber für uns als Evangelisch-Lutherische Kirche, die – wie auch immer dies zu verstehen und zu bewerten ist – als Volkskirche im Unterschied zu Bekenntnisgemeinschaften offen für unterschiedliche Überzeugungen ist? Die Antwort kann jede und jeder nur für sich selbst geben. Für mich stelle ich meinen Toleranz-Begriff vor.

  

Toleranz kann im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr die herablassende Duldung der theologischen Überzeugung anderer sein. Die Wahrheitsgründe, auf die ich meine Überzeugungen baue, kann ich versuchen, plausibel zu machen. Wenn mir dies aber nicht gelingt, muß ich das aushalten. Und dann gilt es für mich, daß ich mich selbst darin begrenze, daß ich meine Wahrheitsansprüche nicht für andere verbindlich mache. Toleranz heißt also Selbstbegrenzung. Ich stelle meine Überzeugungen nicht in Frage, mache sie aber auch nicht für andere zum Maßstab. Und in gleicher Weise lasse ich mir natürlich nicht die Überzeugungen anderer zum Maßstab machen. Da ich die Vorstellungen der SBI nicht als evangelisch oder christlich anerkennen kann, werde ich natürlich auch nicht hinnehmen, daß ihre Überzeugungen Maßstab für kirchliches Handeln werden. Und anders herum genauso: Wenn Menschen oder Gemeinden so glauben, wie es in den Texten der SBI zum Ausdruck kommt, kann und will ich sie nicht zwingen, meine Maßstäbe zu übernehmen. Ich werde gegen diese Vorstellungen argumentieren und dafür eintreten, daß die sich aus diesen Vorstellungen ergebenden Maßstäbe nicht zum Maßstab einer gesamtkirchlichen Praxis werden. Aber ich muß und will akzeptieren, daß Menschen so glauben und dementsprechend ihre Glaubens- und Lebenspraxis ausrichten.

  

Für uns als Landeskirche kann das nur bedeuten, daß wir uns überzeugen oder akzeptieren, daß es unterschiedliche Überzeugungen gibt, die zu unterschiedlichen Lebensentwürfen in den unterschiedlichen Gemeinden der einen Landeskirche führen. Diesen Zustand muß niemand befriedigend finden. Aber es scheint mir keine sinnvolle Alternative zu geben, wenn wir nicht im status quo verharren oder eine Spaltung der Landeskirche in Kauf nehmen wollen.

 

Frank Martin

 

 

 

 

 

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Kommentare: 19
  • #19

    Frank Martin (Montag, 12 September 2016 04:57)

    Sehr geehrter Herr Rau,
    sehen Sie denn eine lebendige Mitte zwischen den verschiedenen Gruppen in der Landeskirche? Außerdem ist die Landeskirche nicht die wahre Gemeinde, von der Buber spricht.
    Ich ziehe keine Grenze zwischen verschiedenen Lagern, ich stelle fest, daß es fundamentale Unterschiede in den Überzeugungen gibt, die ich nicht überbrücken kann, aber aushalten will. Warum ich das will, habe ich versucht auszuführen.
    Pfarrer*innen werden auch heute noch auf Bibel und Bekenntnis ordiniert. Ich weiß also nicht, was Sie meinen, wenn Sie das in Zweifel ziehen.
    Es gibt keine Forumstheologie, es gibt aber Menschen, die von der diskriminierenden Art und Weise, wie Glauben etwa bei der SBI verstanden wird, etwas entgegensetzen wollen - unabhängig von den teilweise verschiedenen theologischen Überzeugungen.
    Und mit dem Toleranzbegriff beschreibe ich die Haltung, die ich einnehmen möchte – manches mal zähneknirschend, wenn ich sehe, was Menschen in fundamentalistischen Kreisen erleben und erleiden. Es ist aber ein eher erkenntnistheoretisch angelegter Toleranzbegriff. Daraus ergibt sich nicht, daß alle alles dürfen sollen oder gar etwas für alle festlegen dürfen.
    Am Beispiel: Kein/e Pfarrer*in soll gegen ihre Überzeugung genötigt werden, Menschen, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, zu trauen. Aber die haben nicht das Recht, dies anderen zu verwehren.
    Mit der Wahrheit ist das so eine Sache. Wenn ich feststellen will, wie lang ein Meter ist, habe ich einen Maßstab – das Urmeter, welches in Paris aufbewahrt wird. Welchen Maßstab wollen Sie nehmen, um die Wahrheit zu messen? Ist die Wahrheit nicht viel mehr der Maßstab? Und wo liegt diese Wahrheit?
    Mit freundlichen Grüßen
    Frank Martin

  • #18

    A.Rau (Sonntag, 11 September 2016 20:00)

    Sehr geehrter Herr Martin,

    die Kirchenleitung zitierte in ihrem Bericht vom 22. Oktober 2012 Martin Buber: "Die wahre Gemeinde entsteht ... durch diese zwei Dinge: daß sie alle zu einer lebendigen Mitte in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen und daß sie untereinander in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen. Das zweite entspringt aus dem ersten, ist aber noch nicht mit ihm allein gegeben ... der Baumeister ist die lebendig wirkende Mitte."

    Mit Ihrem Toleranzbegriff geben sie diese "lebendig wirkende Mitte" auf. Damit schreiben Sie die Kirchenspaltung fest. Nach außen hin, in der Form, sollen wir so tun, als seien wir noch eine Kirche. In der Sache aber ziehen Sie einen unüberwindlichen Graben zwischen den theologischen Lagern, was eine "lebendig gegenseitige Beziehung" unmöglich macht.

    Früher wurden Pfarrer auf Bibel und Bekenntnis ordiniert. Sollen sie heute entweder-oder ordiniert werden, entweder auf SBI- oder auf Forum-Theologie? Oder vielleicht auch noch andere - so dass am Ende jeder Pfarrer sein eigenes Evangelium predigen darf bzw. muss? (Obendrein fragt sich, ob diese ihre Toleranz tatsächlich auch praktiziert wird - oder ob sie nur elegant den Machtanspruch ihrer Fraktion rechtfertigen soll?)

    "Ihr werdet die Wahrheit erkennen und wird Wahrheit wird euch frei machen". Wahrheit und Freiheit sind untrennbar verbunden. Eine Kirche, die die Wahrheit aufgibt, kann sich hundertmal "Kirche der Freiheit" nennen oder "fromm und frei" oder wie auch immer - sie wird immer Sklavin der Welt und deren Sünden sein.

  • #17

    Dr. Werner Holm (Sonntag, 26 Juni 2016 10:41)

    Sehr geehrter Herr Martin,
    besten Dank für Ihre Antwort auf meinen Beitrag vom 16. Juni d.J. Ich konnte leider nicht eher antworten, da meine Frau und ich in der Zwischenzeit eine Kurzreise nach Schleswig-Holstein unternahmen.
    In dem von mir angeführten Beispiel war es leider so, dass die Vertreter der evangelikal-fundamentalistischen Ansichten deutliche Bestrebungen zeigten, diese Ansichten als allgemein verbindlich in das Gemeindeleben einzuführen. Das führte eben zu den für mich nicht akzeptablen und nicht nachvollziehbaren theologischen Meinungen und zu der Verflachung des Unterrichtes der Konfirmanden, die, wie es von anderer Seite so formuliert wurde, am Ende des Konfirmandenunterrichtes zwar gut zeichnen können, über die Grundlagen unseres Glaubens aber höchst
    unzureichend informiert sind und auch, wie ich jetzt hörte, kein Interesse am Gemeindeleben, in diesem Falle an einer Mitarbeit in der Jungen Gemeinde haben.
    So ist die Gemeinde, die früher zu den größten Gemeinden in Sachsen gehörte, im Laufe der Jahre zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Im Sinne eines Gemeindeaufbaues kann das wohl nicht sein! Ich habe mich inzwischen umgemeinden lassen, da die Zusammensetzung des neuen Kirchenvorstandes keine wesentliche Änderung der bisherigen Verhältnisse erwarten lässt. Zu einer Lösung der Probleme kann dieser Schritt natürlich nicht beitragen, er war für mich aber unausweichlich, da alle meine Versuche, mit Hilfe der örtlichen Kirchenleitung und des LKA eine Besserung bzw. Normalisierung herbeizuführen, ins Leere gelaufen sind. Kann zu viel Toleranz nicht doch schädlich sein?
    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Werner Holm

  • #16

    Frank Martin (Montag, 20 Juni 2016 09:21)

    Sehr geehrter Herr David,
    es scheitert nicht am (Nicht)Glauben. Wenn es scheitert, dann scheitert es an uns. Vielleicht heißt es dann einmal: "Gewogen und zu leicht befunden." Wir sollten uns aber nicht auf Gott rausreden.
    Darf ich Ihnen ein Buch empfehlen? "Der Gottesbegriff nach Auschwitz" von Hans Jonas. Außerdem empfiehlt es sich vielleicht, die Begriffsgeschichte des Begriffs "Allmacht" zur Kenntnis zu nehmen. Sie hatten ja mehrfach betont, kein Theologe zu sein. Als Theologe und Philosoph beschäftigt man sich mit Geschichte oder Genese von Begriffen. Das ist natürlich nicht notwendig. Aber wenn Begriffe zur Grundlage einer Argumentation gemacht werden, auch nicht ganz unwesentlich.
    Was die Entscheidungen betrifft, die Sie Gott überlassen wollen: "Wenn Du Gottes Sohn bist, …" Das soll Sie aber nicht daran hindern, es zu tun, wenn Sie es für richtig halten.
    Mit freundlichen Grüßen
    Frank Martin

  • #15

    Christian David (Sonntag, 19 Juni 2016 21:21)

    Sehr geehrter Herr Martin,

    nun, dann scheitert es wohl einfach an dem (Nicht-)Glauben an die Allmacht Gottes bzw. der Definition des Begriffs. Ich glaube, dass für Gott alles möglich ist. Und wenn wir als Christen an einen Punkt kommen, an dem wir uns absolut uneinig sind, aber eigentlich alle das Richtige tun wollen, warum sollten wir dann nicht (mit Gebet und im Vertrauen darauf, dass er uns die Antwort gibt!) Gott diese Entscheidung treffen lassen?! Ich kann mir gut vorstellen, das für private Entscheidungen zu tun (also Entscheidungen, an denen ich beteiligt bin). Wenn ich nicht weiter weiß bzw. meine Meinung gegen die eines Menschen steht, der mir nahe steht und der auch nur das Richtige tun will, und ich bereit bin, Gott entscheiden zu lassen, warum nicht? Es ist halt ein sehr "einfacher" Weg. Aber warum sollte er deshalb schlechter sein, als ein anderer? Das ist aber wahrscheinlich wieder so eine Sache: jemand, der darauf vertraut, dass Gott dadurch spricht, sollte das vielleicht auch tun. Wer es von vorn herein nicht sinnvoll findet, sollte die Entscheidung vielleicht lieber anderweitig treffen.

    Herzliche Grüße!

  • #14

    Frank Martin (Sonntag, 19 Juni 2016 15:18)

    Sehr geehrter Herr David,
    wir sind uns sofort einig, daß es wichtige Dinge gibt, die wir als Kirche tun sollten. Wir sollten es nicht nötig haben, uns bei diesen Fragen aufzuhalten. Aber es ist leider nötig. Also lassen Sie uns das eine tun und das andere dabei nicht lassen.
    Daß wir in der Kirche uns einig würden, halte ich für unmöglich. Diese Einigkeit gab es nie. Deshalb werbe ich für eine Haltung, die das Gegenüber annimmt. Natürlich gibt es Grenzen dafür. Über diese Grenzen müssen wir sprechen. Die Antwort einer Volkskirche sieht da anders aus als die einer kleinen Bekenntnisgruppe.
    Ein Los zu werfen, ob Frauen ordiniert werden dürfen oder ob gleichgeschlechtlich Liebende, die heiraten und zusammenleben wollen, dies unter dem Segen Gottes tun dürfen? So in der Art Schnick, Schnack, Schnuck – aber ohne Brunnen? Würden Sie fundamentale Lebensfragen auf diese Weise lösen? Welche Bindekraft hätte denn so ein Los? Und Orakel hat die Kirche immer kritisch gesehen. Manchmal werden ja die Losungen so benutzt.
    Ich glaube übrigens nicht, daß Gott "allmächtig" ist resp. ich finde den Begriff ausgesprochen unverständlich und erklärungsbedürfig. Der Begriff "allmächtig" – wie überhaupt die von Ihnen genannten Gottesprädikate – sind philosophische Vorstellungen, die eine Begründungsfunktion hatten. Der Theologie haben sie nicht gut getan. Wir müßten den Begriff "Allmacht" klären. Der hat nämlich eine nicht unproblematische Geschichte.
    Noch ein Gedanke zu Mt 25: Ja, da bin ich ganz bei Ihnen. Darum geht es, das sollten wir als Kirche tun. Und da erschrecke ich manchmal, wenn ich höre, was die, die die Bibel für Gottes unumstößliches Wort halten, welches nicht ausgelegt, sondern befolgt werden solle, für kreative Möglichkeiten finden, um Christus, der in den Fremdlingen zu uns kommt , vor die Tür setzen zu können. Bibeltreue ist eben nicht zwingen Treue zum Wort Gottes – also zu Jesus, der ja das Wort Gottes ist.
    Herzliche Grüße zurück
    Frank Martin

  • #13

    Christian David (Samstag, 18 Juni 2016 22:28)

    Sehr geehrter Herr Martin,

    ich finde, dass sich die Kirche mit dem, was sie eigentlich will, was sie für gut oder schlecht hält, einig sein sollte. Wie man dazu kommt, weiß ich nicht. Wenn ich - oder irgendwer sonst - es wüsste, könnten wir uns ja so einige Diskussionen sparen.
    Was Frauenordination und das Zusammenleben Gleichgeschlechtlicher angeht, gebe ich Ihnen Recht, dass es nicht um die Tellerform, sondern darum geht, ob jemand essen darf - wenn man es kirchenintern betrachtet. Meine Betrachtung ging eher davon aus, dass die Kirche auf der einen Seite (als die das Essen ausgebende Partei) und die Menschen, die nicht dazu gehören und um die wir uns kümmern wollen/müssen, auf der anderen Seite stehen.
    Letztlich wollte ich nicht sagen, dass solche Fragen unwesentlich sind. Aus eigener Erfahrung denke ich nur, dass wir uns sehr viel mit solchen Dingen und eher weniger mit Menschen in Not befassen. Sicherlich müssen wir über solche Themen sprechen, aber das Verhältnis sollte passen.
    Dass jemand keinen Anspruch darauf hat, dass auf seine Schwäche Rücksicht genommen wird, scheint mir im ersten Moment etwas gegen das zu gehen, was Paulus schreibt. Aber gut, hier geht es ja darum, dass die "Schwächeren" anderen etwas verbieten wollen. Ich frage mich, warum man bei solchen Entscheidungen (wobei beide Parteien ihre Meinung mit der Bibel untermauern) nicht einfach darüber betet und (wie es im AT vorkam) das Los wirft. Wenn wir glauben, dass Gott allmächtig, allwissend und gut ist (glauben das alle?), warum lassen wir ihn dann nicht einfach entscheiden? Falls ich hier eine falsche Verbindung zu dem Lose werfen aus dem AT ziehe, bitte ich um Entschuldigung. Wie gesagt, ich bin kein Theologe.
    Ich weiß nicht so recht, wie ich Ihre Frage nach dem "Wie ich Jesus kenne" beantworten soll. Das ist schwierig. So wie ich ihn bisher erfahren habe, denke ich, dass es schon wichtig ist, auf Gleichbehandlung von Frauen und Männern zu achten. Aber wenn deswegen andere Dinge, wie die in Mt 25,31-46 beschriebenen zu kurz kommen, glaube ich, dass wir vorsichtig sein sollten. Aber das ist nur mein Verständnis der Bibel und von Gott. Das können Sie auch vollkommen anders sehen. Ich will da niemandem eine Meinung aufzwingen! Irgendwann müssen wir uns alle einmal für alles rechtfertigen. Und leider werden wir auch erst dann erfahren, was richtig oder an der Zeit war und was nicht. Zumindest glaube ich das.

    Herzliche Grüße!

  • #12

    Frank Martin (Samstag, 18 Juni 2016 10:21)

    Sehr geehrter Herr David,
    worin sollte die Kirche denn einig sein und wie wollen Sie diese Einigkeit herstellen?
    Ich gebe Ihnen recht, es gibt wirklich wichtige Dinge zu tun. Aber Sie haben unrecht, wenn Sie meinen, die Frage nach der Frauenordination oder dem Umgang mit gleichgeschlechtlich Liebenden sei unwesentlich. Da geht es nämlich nicht um die Frage, welche Tellerform richtig sei, sondern um die Frage, ob jemand das Recht hat zu essen.
    Wenn jemand aus Glaubensschwäche ein Problem damit hat, daß ich als Christ ein Glas Wein trinke, kann ich es aus pädagogischen Gründen lassen oder es eben gerade deshalb trinken. Aber die, es aus Schwäche nicht aushalten, wenn andere Menschen auch mit ihrem Lieblingsmenschen zusammenleben, haben keinen Anspruch darauf, daß auf ihre Schwäche Rücksicht genommen wird. Da geht es nämlich nicht um etwas, was jemand tun oder lassen kann. Natürlich kann ich das für mich entscheiden – nicht aber für andere.
    Wenn es aber wirklich so unwichtig ist, wie Sie meinen, dann könnten wir das ja jetzt einfach machen und uns dann gemeinsam um das Wichtige kümmern.
    Eine Frage noch: Wie kennen Sie Jesus denn, daß Sie wissen, daß ihm die Frage nach der Frauenordination – also der Frage nach der Ungleichbehandlung von Kindern Gottes – unwichtig ist?
    Mit freundlichen Grüßen
    Frank Martin

  • #11

    Christian David (Freitag, 17 Juni 2016 19:04)

    Sehr geehrter Herr Martin,

    das Problem ist eben, dass sich EINE Kirche in dem, was sie vertritt auch EINIG sein sollte. Die Frage ist, ob man keine Gemeinsamkeiten findet, die wichtiger und dringender sind als die, über die man so lange diskutieren kann ohne auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, und diese auch gemeinsam angeht. Mir kommt es manchmal so vor, als würden wir ewig darüber diskutieren, ob wir bedürftigen Menschen etwas zu Essen auf flachen oder tiefen Tellern geben sollten und dabei brauchen sie einfach nur etwas zu Essen.
    Dass Sie die Schwachheit der anderen nicht zulassen wollen bzw. können, weil sie es zum Maßstab für andere machen wollen, kann ich verstehen. Aber wenn Paulus schreibt, dass er allen alles geworden ist (aus Liebe), heißt das dann nicht auch, dass er sich Gesetzen unterworfen hat, die er selbst für unsinnig oder gar schlecht hielt? Ich will keinesfalls persönlich werden! Aber wenn Gott uns nach unserem Leben einmal fragen wird, warum wir in unserem Leben nicht mehr Menschen etwas zu Essen gegeben haben (um bei meinem obigen Beispiel zu bleiben), wollen wir dann antworten, dass wir ja zuerst klären mussten, ob flache oder tiefe Teller?
    Meiner Meinung nach lehrt die Bibel, dass die "Stärkeren" den "Schwächeren" gegenüber ruhig nachgeben können, um so gemeinsam Christus zu verkündigen. Nur wenn das verhindert wird, dürfen wir diese Schwachheit nicht mehr zulassen. So wie ich Jesus kennengelernt habe, kann ich mir gut vorstellen, dass es ihn am Ende wenig interessiert, ob wir dazu beigetragen haben, dass auch Frauen (weiterhin) ordiniert werden durften. Er wird eher fragen, wann wir ihm zu Essen oder Trinken gegeben haben, wann wir ihn aufgenommen, bekleidet oder besucht haben.
    Alles in allem denke ich, dass die Kirche sich natürlich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede austauschen muss. Jedoch sollten wir dabei unsere eigentlichen Aufgaben nicht vernachlässigen oder gar vergessen.

    Herzliche Grüße!

  • #10

    Frank Martin (Donnerstag, 16 Juni 2016 22:21)

    Sehr geehrter Herr David,
    ich kann Sie in Ihrem Anliegen gut verstehen. Auch, wenn es sicher sehr schwer ist, die Dreieinigkeit unumstößlich aus der Bibel zu lesen – auch ich finde, daß wir das Wichtige tun sollten. Aber auch hier gibt es Streit, was denn das Wichtige ist. Deshalb – und das lese ich auch aus Ihren Worten – geht es darum, daß wir uns als Christ*innen annehmen und aushalten. Und dann kann ich gern auf die Schwachheit derer Rücksicht nehmen, für die etwa bestimmte Sachen Sünde sind. Aber ich kann ihnen ja nicht erlauben, ihre Schwachheit auf Kosten anderer zum Maßstab zu machen. Wer es nicht aushält, daß Frauen auch im Pfarramt arbeiten, muß zu keiner Frau gehen. Es geht aber für mich nicht, daß deshalb etwa die Frauenordination wieder infrage gestellt wird.
    Daß wir etwas besseres zu bieten haben, als Helene Fischer und Andrea Berg, können wir behaupten. Es wäre aber besser, wir würden es beweisen. Schön, wenn das Werk den Meister lobt und peinlich, wenn der Meister sein Werk loben muß.
    Mit freundlichen Grüßen
    Frank Martin

  • #9

    Christian David (Donnerstag, 16 Juni 2016 16:42)

    Hallo,

    ich kann zum einen verstehen, dass wir alle irgendwo tolerant miteinander umgehen sollten. Die Sache ist, dass uns die Bibel lehrt, dass es zuerst darum geht, dass Christus verkündigt wird. Letztlich sollen Menschen ihn erfahren und eine Beziehung zu ihm aufbauen. Dabei spielt es vorerst keine bzw. nur eine kleine Rolle, welche konkreten Ansichten eine Person hat. Ich glaube, es gibt Punkte in der Bibel, die unumstößlich sind (Dreieiniger Gott, Auferstehung, ...). Wer sich Christ nennt bzw. meint, die Bibel sei Gottes Wort und diese Punkte anders sieht, hat die Bibel meiner Meinung nach definitiv nicht verstanden. Es gibt andere Punkte, die man fast beliebig auslegen kann. Am Ende muss sich jeder selbst vor Gott rechtfertigen. Gott gibt uns seinen Geist, so dass wir sein Wort verstehen und es für unser Leben (miteinander) anwenden können. Und er gibt uns sein Wort meiner Meinung nach nicht, um klare Regeln aufzustellen, wie alles zu laufen hat, damit es ihm gefällt, sondern vielmehr dazu, dass wir gut leben können und miteinander klarkommen. Komischerweise drehen wir das gerade ins Gegenteil (oder ich verstehe es einfach falsch).
    Ich denke, wir müssen die grundlegenden, unumstößlichen Punkte von denen, die für jeden individuell verschieden gelten können, unterscheiden. Letztere sind Punkte, zu denen Paulus meiner Meinung nach sagen würde: "Alles zwar ist rein, aber es ist böse für den Menschen, der mit Anstoß isst. [...] Wer aber zweifelt, wenn er isst, der ist verurteilt, weil er es nicht aus Glauben tut." (Röm 14,20.23) Für den einen ist es also sogar Sünde, für den anderen nicht. Paulus macht in dem Abschnitt aber deutlich, dass wir unsere Meinung hinter die, des anderen stellen sollen. Nicht, weil unsere womöglich schlechter ist, sondern um des Friedens willen. Als es weiter unten darum ging, dass die Kirche weniger Zulauf hat, als zum Beispiel Konzerte von H. Fischer oder A. Berg, dachte ich, dass das eigentlich echt schade ist, weil die "Kirche" ja weitaus mehr zu bieten hat (ohne die beiden Sängerinnen schlecht machen zu wollen)! Warum konzentrieren wir uns als Christen nicht darauf, Menschenfischer zu sein?! Ich meine, diese ganze Thematik der Streitfragen ist nicht neu: Paulus rät Titus: "Törichte Streitfragen aber und Geschlechtsregister und Zänkereien und gesetzliche Streitigkeiten vermeide! Denn sie sind unnütz und wertlos." (Tit 3,9) Es gibt so viel zu tun - die Ernte ist reif! Ich glaube fast, dass wir weniger dadurch irren, dass wir uns versuchen gegenseitig zu belehren oder eben auch zu tolerieren, als dadurch, dass wir deshalb so wenig Zeit und Kraft haben, hinzugehen und alle Nationen zu Jüngern zu machen. So wie ich Jesus kennengelernt habe, geht es ihm darum, dass Menschen ihn kennenlernen und annehmen. Und wir sollen dafür Vorbilder sein. Wenn wir jedoch weiterhin einander kritisieren und womöglich den Leuten davon abraten, in die und die Gemeinde zu gehen (obwohl dort Jesus verkündigt wird), verfehlen wir unseren Auftrag meiner Meinung nach. Ich bin kein Theologe, das ist nur mein persönliches Verständnis der Bibel.

    Herzliche Grüße!

  • #8

    Frank Martin (Donnerstag, 16 Juni 2016 15:22)

    Sehr geehrter Herr Dr. Holm,
    das läßt sich so schwer beantworten. Ich kenne die Umstände zu wenig, weiß aber, daß manchmal Pfarrer*innen und ihren Gemeinden und manchmal Gemeinden unter den Pfarrer*innen leiden. Da sollte man es im Zweifel machen wie Paulus und Barnabas – sich trennen.
    Ansonsten gibt es in den Landeskirche natürlich bestimmte Regeln, die im Zweifel gelten.
    Der Gedanke zur Toleranz, den ich geäußert habe, geht aber in eine andere Richtung. Obwohl ich zum Beispiel meine, daß ein evangelikales Verständnis der Bibel vollkommen falsch ist, will ich akzeptieren, daß Menschen so ein Verständnis haben – und dementsprechend ihr Leben gestalten. Natürlich in der Einschränkung, daß sie keine anderen Menschen – gegen ihren Willen – zu Opfern ihrer Meinung machen. Wer meint, mit der Bibel in der Hand seine Söhne mit der Rute züchtigen zu müssen, darf das meinen – aber nicht tun. Wer meint, daß gleichgeschlechtlicher Sex Sünde sei, darf das tun – aber diese Leute nicht diskriminieren. Daran arbeiten wir. Aber ich kann und will ihnen ihre Meinung nicht verbieten. Und wenn in einer Gemeinde ganz viele Menschen so denken, wäre es nicht gut, wenn dort jemand arbeiten sollte, der in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebt. Denn dann würden die vielen diskriminiert, die das schlimm finden. Wenn diese Gemeinde dann aber meint, was sie für richtig wähnt, müsse überall gelten, wäre Schluß.
    Damit beschreibe ich meine Haltung – oder besser: Die Meinung, um die ich ringe. Als kleines Beispiel: In Leipzig gibt es verschiedene christliche Studierendengruppen. Der Theo-Kreis gehörte zur sogenannten Bekenntnisinitiative und steht deren Gedankengut nahe. Mir ist das vollkommen fern. Dennoch haben wir uns als ESG und ich als Pfarrer der ESG dafür eingesetzt, daß diese Gruppe am Semesteranfangsgottesdienst der Universität beteiligt wird. Ich werde immer gegen die Vorstellungen argumentieren – um des Evangeliums willen. Aber ich werde mich im Blick auf die anderen selbst begrenzen und keine Festlegungen für sie machen oder gar durchsetzen. Wenn sie die allgemeinen Spielregeln bestimmen wollen, sieht das dann wieder anders aus.
    Sie sehen den Unterschied?
    Mit herzlichen Grüßen
    Frank Martin

  • #7

    Dr. Werner Holm (Donnerstag, 16 Juni 2016 11:17)

    Sehr geehrter Herr Martin,
    ich habe Ihren Beitrag zur Frage der Toleranz und die folgenden Diskussionen als zu theoretisch empfunden. Schließlich geht es nach meinen Erfahrungen, die ich in letzter Zeit machen musste, bei der Auseinandersetzung mit evangelikal-fundamentalistischen Ansichten um recht praktische Fragen. Es wurden z.B. folgende Ansichten geäußert: Wozu brauchen wir akademisch gebildete Pfarrer und Pfarrerinnen? Es genügt doch, wenn Jesus verkündigt wird. Warum soll man sich um die Grundlagen unseres Glaubens kümmern (z.B. Kleiner Katechismus, Glaubenszeugnisse in Kirchenliedern u.ä.). Es genügt doch, wenn man weiß, das Christus mich liebt. Sollte man die Kirchenorgel nicht verkaufen? Eine offensichtliche Missachtung der Kirchenmusik! Dieses nur als einige Beispiele, die nicht aus der Luft gegriffen sind! Dieses und mehr führte zu schweren Differenzen zwischen einer evangelikal-fundamentalistisch geprägten Fraktion des Kirchenvorstandes und der Pfarrerin der Gemeinde, die bestrebt war, das Niveau des Konfirmandenunterrichtes wieder zu heben und Wert legte auf eine würdige Gottesdiensgestaltung, der auch der Gemeindeaufbau sehr am Herzen lag.
    Leider erfuhr diese Theologin bisher weder von der örtlichen Kirchenleitung noch vom Landeskirchenamt die erforderliche Unterstützung. Wie beurteilen Sie in solchen und ähnlichen Fällen die Frage der Toleranz?
    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Werner Holm

  • #6

    Frank Martin (Mittwoch, 18 Mai 2016 10:03)

    Liebe Frau Baldermann-Ifland,
    herzlichen Dank für Ihre Anregungen. Ja, wir müssen darum ringen, daß wir nicht resignieren. Wir haben nur die eine Welt und müssen in ihr miteinander klarkommen. Und ich meine, wir brauchen auch die eine Kirche, die sehr vieles leistet, was im Alltag oft nicht gesehen wird. Dafür – so glaube ich – lohnt es sich.
    In den Auseinandersetzungen kann man sehr schnell an Grenzen stoßen – das erlebe ich auch so, wie Sie es beschreiben. Darum will ich gerne um eine gemeinsame Haltung ringen. Ich will glauben, daß es meinen Gesprächspartner*innen wirklich um Gott geht – auch dann, wenn ich sie nicht verstehe. Damit sollen sie nichts rechtfertigen dürfen. Aber – so meine Hoffnung – ich betrachte sie dann nicht als "Gegner*innen" oder gar als "Feind*innen". Ich will sie freundlich betrachten, auch und gerade dann, wenn ich ihnen fundamental widersprechen oder mich ihnen in den Weg stellen muß – etwa, wenn sie Menschen diskriminieren, weil diese eine andere sexuelle Orientierung haben.
    Wir als Gruppe sind sehr gespannt auf den Forumstag, weil wir hoffen, daß wir, die wir uns treffen werden, uns gegenseitig ermutigen - für unseren Glauben, für unsere Kirche und für die vielen Aufgaben, die Gott gerade uns anvertraut hat.
    Herzliche Grüße bis dahin
    Frank Martin

  • #5

    Ramona Baldermann-Ifland (Dienstag, 17 Mai 2016 19:24)

    Lieber Herr Martin, vielen Dank für den anregenden Beitrag zum Thema Toleranz. Mich hat er zum Nachdenken gebracht. Toleranz stand für mich immer für eine Erweiterung der Möglichkeiten. In dem ich eben nicht akzeptiere sondern mich öffne und tolerant zeige wird ein gemeinsames Ringen um Positionen möglich. Ich lese in ihrem Artikel aber auch " ich muss und will akzeptieren das Menschen so glauben...." Das klingt mir nach riesiger Kraftanstrengung die ich selbst auch in unterschiedlichen Gesprächen, insbesonder um die SBI, erlebt habe. Aber es kann sein das es nicht anders möglich ist als diese Ringen weiter zu führen.Ich hoffe nur das die Kraft nicht nachlässt und dem tolerieren das akzeptieren und dann das resignieren folgt. Ich freue mich schon sehr auf die Veranstaltung am 27.August. Danke für alle Vorbereitung bis dahin.
    Viele Grüße Ramona Baldermann-Ifland

  • #4

    Frank Martin (Montag, 16 Mai 2016 21:35)

    Lieber Herr Wildenhain,
    ich kann Ihnen in Ihren Beobachtungen nicht widersprechen, habe aber zum Glück auch andere Erfahrungen gemacht. Das liegt vielleicht daran, daß ich in einer Studierendengemeinde arbeite. Allerdings kenne ich theologische und philosophische Auseinandersetzungen auch aus anderen Gemeinden oder Gemeindegruppen.
    Aber Sie haben natürlich recht – es ist viel zu tun. Das ist auch eine wesentliche Idee für das Forum – gemeinsam "Gemeinde"-Theologie zu treiben. Und da lade ich Sie als Kollegen gerne ein mitzumachen. Denn wir müssen gemeinsam nach tragfähigen Antworten suchen, damit wir nicht auch mit einer der von Ihnen genannten (Nicht-)Farben malen – ohne es zu bemerken.
    Von "der Kirche" würde ich nicht zu viel erwarten. Kant (http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3505/1) spricht ja in seiner berühmten Aufklärungsdefinition vom Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit – also nicht: Ich kläre Dich auf! Es heißt: Ich kläre mich auf. Aber das geht nach meiner Überzeugung nur in Gemeinschaft. Wir klären uns gemeinsam und gegenseitig auf – über die Möglichkeiten und über die Grenzen unserer Möglichkeiten. Und diese Grenzen sind für mich die Gründe für die Selbstbegrenzung, die ich mir auferlege.
    Baustellen sehe ich auch viele. Wollen wir? Gemeinsam – Sie und ich und andere? Sie haben recht, es gibt keine einfachen Antworten. Und es wird auch nicht einfach. Aber es ist Pfingsten. Und vielleicht können wir am 27.08. ein paar Ideen austauschen.
    Mit den besten Wünschen
    Frank Martin

  • #3

    Sascha Wildenhain (Montag, 16 Mai 2016 12:28)

    Hallo Herr Martin,

    vielen Dank für Ihre interessanten Zeilen, ebensolchen Dank auch an Herrn Traugott für seine Worte. Ich kann das alles unterschreiben, mir fehlt bei all den theologischen Diskussionen (ich habe mir im Jahr 2011 über den Kirchlichen Fernunterricht eine-objektiv betrachtet- wirklich sehr anspruchsvolle Prädikantenausbildung angedeihen lassen) jedoch fast immer eine "Wahrheit", die sich kaum jemand auszusprechen wagt, nämlich die, dass es meiner Erfahrung nach "in der Gemeinde" nicht einmal annähernd hochvergeistigte, theologische Debatten gibt. Mich beschleicht zunehmend das Gefühl, daß "wir als Kirche" grandios versagt haben, angesichts des Zulaufs, den zum Beispiel Freikirchen, fundamentalistische Glaubensclubs und nicht zuletzt Herr Bachmann mit seiner Pegida haben. Es gibt offensichtlich eine tief verwurzelte Sehnsucht (auch) in vielen Christen nach einfachen Wahrheiten, also nach Schwarz/ Weißmalerei. Leider habe ich kein Patentrezept in der Tasche, wie diese Sehnsucht befriedigt werden kann, ohne in fundamentalistische, autoritäre oder totalitäre Strukturen zu verfallen. In dem Zusammenhang noch eine andere Beobachtung: Hat sich eigentlich schon mal jemand ernsthaft gefragt, weshalb sehr viele Menschen zu Helene Fischer- oder Andrea Berg- Konzerten rennen, sich dort in eine riesengroße emotionale Woge legen, sich dabei offensichtlich irgendwie glücklich fühlen und wir als Arbeiter im Weinberg des Herrn andererseits froh sind, wenn überhaupt noch irgendein Mensch den Weg in einen sonntäglichen Gottesdienst findet (leicht überspitzt)?
    Wir haben viele Baustellen in unserer Kirche, aber ob es nun ausgerechnet eine Perikopenrevision sein muss? Ich bezweifle dies und ich habe Angst, daß unsere Kirche richtig auseinanderbricht, weil wir es offensichtlich immer weniger vermögen, Menschen im Herzen anzusprechen, ohne manipulativ, affektiert oder überemotionalisiert zu sein.

  • #2

    Frank Martin (Samstag, 14 Mai 2016 11:47)

    Sehr geehrter Herr Traugott, herzlichen Dank für Ihren sachlichen und weiterführenden Kommentar und den Verweis.
    Zur Erklärung: Es geht mir nicht um die Akzeptanz der Positionen, es geht mir darum zu akzeptieren, daß es andere Positionen gibt, die ich nicht widerlegen kann, eben weil es keinen gemeinsamen Maßstab gibt. Und da geht es mir darum, mich in meinen Wahrheitsüberzeugungen selbst zu begrenzen. Dieser Toleranz-Begriff steht in der Tradition postmoderner Erkenntnistheorie.
    Zum Ertragen: Ein Blick in die Geschichte lehrt, daß das Ertragen oft dann endete, wenn die, die ertragen hatten, auf einmal in der Lage waren, nicht mehr ertragen zu müssen – etwa, weil sich die Machtverhältnisse oder Interessenlagen geändert hatten. Der von mir etablierte Toleranz-Begriff steht dafür, daß ich das Recht der anderen, eine begründet andere Meinung zu haben, aus voller Überzeugung bejahe – auch, wenn die Gründe für mich nichts begründen. Er endet dort, wo diese anderen dann ihre Überzeugungen für alle normativ machen. Da bin ich dann auch nicht mehr bereit, dies zu ertragen.
    Mit besten Wünschen für das Pfingstfest
    Frank Martin

  • #1

    Wilfried Traugott (Samstag, 14 Mai 2016 10:36)

    Ich finde Ihren Toleranzbegriff (die Duldung abweichender Überzeugungen) etwas verzerrt und schlage das Verständnis von Dr. Lamprecht vor, welcher mit Toleranz das Aushalten bzw. Ertragen von andereren Positionen, nicht aber das Akzeptieren meint. Denn Akzeptieren, impliziert ein Anerkennen, welches teils aus Überzeugungen nicht möglich ist. Ein Ertragen klingt zwar nicht so schön frei, ist jedoch wahrscheinlich ein bisschen Realitätsnäher. Im folgenden ein hilfreicher Artikel über Toleranz.

    Vgl. http://www.evlks.de/doc/themenheft_2013-mit-umschlags-v1.pdf