Jonas fiebert mit

Das Gebet ist zu Ende. Oma Else macht sich bereit, damit sie gleich aufstehen kann. Zur Lesung steht man auf, so kennt sie es. Jonas, der kleine Siebtklässler vor ihr, reckt den Kopf. Seine große Schwester liest heute zum ersten Mal im Gottesdienst. Vor zwei Wochen hatte sie erzählt, der Pfarrer hätte in der Jungen Gemeinde gefragt, ob nicht auch mal jemand von ihnen die Lesungen im Gottesdienst übernehmen würde. Jonas wusste, sie kann gut vorlesen und er mochte ihre weiche Stimme. Aber im Gottesdienst aus der Bibel lesen, das ist doch noch mal was anderes.

 

Seine Schwester steht auf und geht zum Lesepult. Sie atmet noch einmal tief durch und beginnt: „Die Epistel für den heutigen Sonntag steht im Brief des Paulus an die Römer im 8. Kapitel.“ Dann macht sie eine Pause und alle stehen auf. Jonas versucht zuzuhören, aber das ist gar nicht so einfach. Die kleine Einleitung, die seine Schwester der Lesung voranstellt, hilft etwas: „So beschreibt der Apostel Paulus die Vorfreude auf das ewige Leben bei Gott: Ich bin überzeugt …“ Er hatte gehört, wie sie gestern Abend geübt hat, den Text laut und deutlich zu lesen. Trotzdem versteht er nicht, worum es geht. Er hört nur einzelne Worte, die seine Schwester besonders betont: Herrlichkeit – Harren – Kinder Gottes – Schöpfung – Vergänglichkeit – seufzt – Erlösung. Wieder macht seine Schwester eine Pause, schaut in die Gemeinde und sagt: „Worte der Heiligen Schrift“ und alle antworten: „Gott sei Lob und Dank“.

 

Die Orgel beginnt zu spielen, während sich alle wieder setzen. Jonas erinnert sich: Jetzt kommt das Wochenlied. Es ist wie eine Brücke zwischen Brieflesung und Evangelium. So hat es der Pfarrer im Konfiunterricht erklärt. Unter einer Brücke kann Jonas sich etwas vorstellen, aber dass „Epistel“ ein anderes Wort für „Brief“ ist, hat ihm gestern erst seine Schwester erklärt.


Jetzt hört Jonas hinter sich die zittrige Stimme von Oma Else und er muss sich ein Lachen verkneifen. „Es ist gewißlich an der Zeit …“ Etwas mehr Pepp könnte den Liedern nicht schaden, denkt Jonas. Und auch für den Text bräuchte er eine Gebrauchsanweisung. Von wegen „Brücke“! Irgendwie scheint es um Zeit zu gehen, die erst noch kommt. Oder…? Wieder sieht er, wie seine Schwester ans Lesepult geht.

 

„Das Evangelium für diesen Sonntag steht bei Matthäus im 25. Kapitel.“ Alle stehen wieder auf und singen: „Ehre sei dir Herr“. Damit begrüßt die Gemeinde Gottes gute Botschaft. Auch das hat Jonas bei seinem Pfarrer gelernt. Die Geschichte kennt er schon vom Probelesen gestern Abend. Sie hat ihm gefallen, weil die, die helfen, darin so gut wegkommen und die, die nicht helfen, bestraft werden. Am Ende der Lesung sagt seine Schwester, wie zur Bestätigung: „Evangelium unseres Herrn Jesus Christus“ und wie von selbst antwortet die Gemeinde singend: „Lob sei dir Christe“.

 

 

 

Dann geht seine Schwester wieder an ihren Platz. Geschafft! Jonas ist ein bisschen stolz, aber das zeigt er natürlich nicht. Stattdessen überlegt er: Darf ich mich jetzt wieder hinsetzen oder kommt erst noch was?

 

 

Christiane Dohrn / Leipzig

 


Die Lesungen im Gottesdienst

Lesungen gehören seit Anbeginn zum christlichen Gottesdienst. Die Christen haben damit eine aus dem jüdischen Synagogengottesdienst bekannte Praxis aufgegriffen. Bald wurden nicht nur Abschnitte aus der Thora und den Propheten verlesen, sondern auch aus den Briefen der Apostel, später aus den Evangelien.

 

Die biblischen Lesungen eröffnen den Teil des Gottesdienstes, den wir auch „Verkündigung und Bekenntnis“ nennen. Verkündigung geschieht also nicht allein durch die Predigt, sondern auch dadurch, dass aus der Bibel, aus den Schriften des Alten und des Neuen Testaments vorgelesen wird.

 

Die Lesungen gehören zu den Stücken, die sich mit jedem Sonntag, mit jedem gottesdienstlichen Anlass ändern. Zusammen mit dem z.B. Tagesgebet und dem Wochenlied entfalten sie das Thema des Gottesdienstes, das sog. Proprium. Die Lesungen stehen also nicht unverbunden nebeneinander, sondern gehören zusammen. Zugleich kommt der Evangeliumslesung eine besondere Bedeutung zu: Sie setzt den thematischen Akzent, an ihr orientieren sich auch die Abschnitte für die Predigt. Manchmal wird das Evangelium deswegen auch als der „rector“ (lat. für „Führer“) des Gottesdienstes bezeichnet.

 

 

 

Die Leseordnung unserer Kirche kennt traditionell drei Lesungen: Eine aus dem Alten Testament, eine aus den neutestamentlichen Briefen (Episteln) und eine aus einem der vier Evangelien. Abgedruckt sind sie zusammen mit der zugehörigen, für die Ankündigung wichtigen Stellenangabe und in einem lesefreundlichen Schriftbild im Lektionar.

Sicher ist es in den meisten Gemeinden nicht üblich, alle drei Lesungen oder gar, zusammen mit dem Predigttext, vier vorzutragen. Schade ist es aber, wenn häufig gerade die alttestamentliche Lesung entfällt, weil auf diese Weise die Glaubenserfahrung Israels aus unserem Blickfeld geraten kann.

 

Die Lesungen sind Abschnitte („Perikopen“) aus einem größeren Zusammenhang. Vielen aus der Gottesdienstgemeinde ist dieser Zusammenhang nicht sofort deutlich. Zugleich stellen komplizierte Gedankengänge oder ungewohnte Metaphern die Hörerinnen und Hörer vor eine große Herausforderung – zumal sie die Texte ja in der Regel nicht nachlesen

oder mehrmals hören können. Hier bewähren sich „Präfamina“, kurze Hinführungen zu den Lesungen, die das Zuhören erleichtern und dem Verstehen dienen. Möglich ist es auch, die Lesung mit einem „Postfamen“ abzuschließen.

 

Der Verständlichkeit kann es auch dienen, wenn hin und wieder eine zeitgenössische Übersetzung benutzt wird. Der Übersetzung Martin Luthers wir man wegen ihrer Vertrautheit und ihrer sprachlichen Kraft dennoch häufig den Vorzug geben.

 

In der Ökumene ist es seit langem üblich, die Lesungen, vor allem die des Evangeliums, mit einem liturgischen Rahmen zu versehen, sie also durch ein Wort oder einen Vers oder einen Wechselgesang einzuleiten und / oder abzuschließen und dadurch auch hervorzuheben.

In unserer Kirche kennen viele Gemeinden den Abschluss der alttestamentlichen Lesung und der Epistel mit „Worte der Heiligen Schrift“ und der Antwort „Gott sei Lob und Dank“. Auf die Ankündigung des Evangeliums antwortet die Gemeinde mit „Ehre sie dir, Herr“. Der Lesung selbst folgt das Christuslob: „Lob sei dir, Christus!“

 

Als Teil der gottesdienstlichen Verkündigung haben es die Lesungen verdient, dass sie sorgfältig vorbereitet und dann gut verständlich und mit Engagement vorgetragen werden – von einem Lektor oder einer Lektorin, der oder die weiß, welchen inhaltlichen Schwerpunkt der Gottesdienst hat und welchen Beitrag die jeweilige Lesung dazu bietet. Möglicherweise können auch mehrere Personen miteinander eine Lesung vortragen.

Wo es (noch) mehrere Lesepulte gibt, kann, der liturgischen Tradition gemäß, das Evangelium „an der Nordseite“ bzw. links vom Altar, die zweite Lesung an der Südseite bzw. rechts vom Altar vorgetragen werden.

 

Heiko Franke

Zum Weiterlesen:

  • Arnold, J. / Baltruweit, F.: Lesungen und Psalmen lebendig gestalten (gemeinsam gottesdienst gestalten Griffbereit) Hildesheim 2012.
  • Baltruweit, F. u.a. (Hg.), Hinführungen zu den Lesungen im Gottesdienst (gemeinsam gottesdienst gestalten) Hannover (3) 2009.
  • "Und einiges fiel auf gutes Land“. Handreichung für den Lektorendienst, Kirchenbezirk Löbau-Zittau (Hg.) - zu bestellen über die Löbauer Suptur
  • Eine Einführung zu den Proprien jedes Sonntags finden Sie in der Taschenausgabe des Evangelischen Gottesdienstbuches, Berlin 2000, S. 681ff.